Regisseur Zahavi über "Zivilcourage": "Jeder von uns hat eine rote Grenzlinie"
Regisseur Dror Zahavi erzählt die Geschichte eines Mannes, der bei einem Überfall in seinem Berliner Kiez mutig einschreitet und dadurch sich selbst wie seine Umwelt ganz neu kennen lernt.
taz: Herr Zahavi, Ihr Film "Zivilcourage" handelt vom Antiquar Peter Jordan, der mutig einschreitet, als sein Nachbar von einem ausländischen Jungen aus dem Kreuzberger Kiez fast zu Tode geprügelt wird. Eine brennend aktuelle Thematik.
Dror Zahavi: Ja, ich fand es sehr spannend, nach historischen Stoffen ein so aktuelles Thema zu behandeln, das sich auch mit Migranten und ihrer Chancenlosigkeit befasst. Aber in dem Film geht es um viel mehr als um Zivilcourage im engen Sinne. Nicht nur um die Entscheidung von Peter Jordan, sich einzumischen, wenn er sieht, wie ein Rentner fast zu Tode geprügelt wird. Der Film erzählt die Geschichte eines Mannes, der sein Wertesystem, seine Weltanschauung, sein ganzes Dasein verteidigt. Und das ist viel, viel schwerer, als nur aufzustehen und einmal zu schreien: "Stopp! Seid ihr verrückt!?" - und dann weiterzuleben.
Jordan lebt als linker Intellektueller seit 30 Jahren am Kottbusser Tor in Berlin - und bekommt doch kaum mit, was in seiner Nachbarschaft vor sich geht. Seine Wohnung und sein Antiquariat sind mit Gittern abgeschottet, doch indem er den Täter Afrim anzeigt, muss er hinsehen. Ein Weiterleben wie zuvor gelingt nicht mehr.
Seine tiefste Überzeugung ist: Wir leben in einem Land, in dem Rechtstaatlichkeit herrscht, wir haben Gesetze, und jeder, egal ob Deutscher oder Ausländer, der diese Gesetze bricht, wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Doch er muss erkennen, dass all das nur theoretisch ist. Dass die Polizei und die Justiz es gar nicht schaffen, bei all dem einzuschreiten. Die Kette der Ereignisse bringt ihn dazu, seine tiefste Überzeugung zu verraten und sich selbst in einer für ihn bis dahin unbekannten Art und Weise kennen zu lernen.
Anfänge: Geboren 1959 in einem Armenviertel von Tel Aviv
Ausbildung: Ein Stipendium ermöglichte ihm noch zu DDR-Zeiten ein Regiestudium in Potsdam-Babelsberg
Filme: Sein Abschlussfilm "Alexander Penn - Ich will sein in allem" wurde 1988 für den Studenten-Oscar nominiert. Es folgten zahlreiche Fernsehfilme ("Die Salsaprinzessin", "Die Luftbrücke", "Alles für meinen Vater", "Mein Leben") sowie mehrere Folgen der Krimireihe "Doppelter Einsatz"
Auszeichnungen: Deutscher und Bayerischer Fernsehpreis 1999 für die "Doppelter Einsatz"-Episode "Die Todfeindin"
Er wird von Afrim und dessen älterem Bruder bedroht - und lernt nicht nur sich selbst, sondern auch andere neu kennen: Seine Tochter, die in Kreuzberg aufwuchs, wendet sich aus Angst um ihre Familie ab, seine Alt-68er-Freunde feiern ihn erst als Helden, um ihn dann fallen zu lassen.
Jede der Figuren steht parabelhaft für eine Haltung. Die Tochter, die eigentlich aus dem linken Milieu kommt, mit ihrem Mann und ihrer Tochter aber an den Stadtrand gezogen ist, in "eine saubere Gegend", und die sagt: Es ist mir egal, was es für Gesetze gibt, mir ist wichtig, dass meiner Tochter nichts passiert. Was in der Theorie so gut funktionierte, sieht plötzlich ganz anders aus, wenn man Kinder hat.
Oder bedroht wird, wie bei Jordans altem Freund, der gern mit seinen Erlebnissen auf Demos damals prahlt.
Das ist genau die Großartigkeit von Jordan: Er lebt diese Sachen, er kämpft. Sein Freund, der einmal, flapsig gesagt, auf die Schnauze bekommt, zieht gleich den Schwanz ein und rechtfertigt sich damit, dass er damals vor jedem Wasserwerfer stand und nichts mehr beweisen muss.
Die Frau dieses Freundes sagt sogar zu Jordan: "Das ist jetzt kein Spaß mehr."
Das ist genau das Ding. Diese intellektuelle Schicht der Leute, die, als sie jung waren in den 70ern und 80ern, für etwas standen und jetzt bürgerlicher oder gesättigter geworden sind. Ich habe kürzlich einen Dokumentarfilm mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer gesehen, in dem gezeigt wurde, welche Firmen sie jetzt vertreten. Bei Schröder war es für mich keine Überraschung, aber bei Joschka Fischer!
Fischer berät Siemens, BMW - und RWE beim Bau der Nabucco-Pipeline.
Wenn man weiß, was der Mann in den 70er-Jahren gemacht hat, was er dachte … Ein absoluter Teil nicht nur des Establishments, sondern des wirtschaftlichen Establishments zu werden - das ist schon sehr, sehr bedenklich für mich, gerade im Hinblick auf die wachsende Politikverdrossenheit der Menschen. So einer wie Joschka Fischer könnte doch Dozent an tausenden Universitäten sein, könnte Vorträge halten und davon leben, sein Wissen, sein Leben, seine Überzeugungen weiterzugeben. Sich zu verbrüdern mit so was! Ich kann mir vorstellen, dass er sagt, wenn er dort ist, läuft es besser als ohne ihn. Aber es gibt - und gab auch bei ihm vor zwanzig Jahren - Grenzen, die man nicht überschreitet, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.
Jordan gelangt im Film an eine solche Grenze. Die Frage: Soll er seine Anzeige zurückziehen? Er wird verprügelt, seine Wohnung wird verwüstet, seine Familie bedroht -wie viel Opfer ist genug?
Ich glaube, dass jeder von uns eine rote Grenzlinie hat. Bei ihm ist sie erreicht, als er überzeugt ist, dass seiner Enkeltochter etwas passieren könnte. Da beginnt er selbst zu handeln und nicht mehr nur an die Justiz zu glauben. Er besorgt sich eine Waffe. Aber natürlich ist das, was im Film passiert, nicht eins zu eins vergleichbar mit dem realen Leben. Der Film ruft nicht dazu auf, sich eine Waffe zu besorgen, wenn man Probleme mit Banden in Kreuzberg hat.
Hoffnung macht Jordans Öffnung nach außen, etwa hin zu Afrims Freundin Jessica, die ein Schulpraktikum im Antiquariat macht. Ihre Familie lebt von Hartz IV und ihre Mutter prophezeit ihr, dass sie es nicht da rausschaffen wird.
Der Film ist gerade dadurch optimistisch, dass er zeigt: In einem Ghetto geboren zu sein, ist eine Sache; dort zu bleiben eine andere. Wenn Jessica beschließt: Ich möchte jetzt lesen lernen und ich möchte nicht wie meine Mutter fett auf der Couch enden, hat sie, auch wenn sie benachteiligt ist, die Chance zu sagen: Ich will das nicht! Das ist, was Afrim nicht tut. Afrim ist sehr kuschelig in seiner Welt, er kann sich da sehr gut bewegen, er kennt die Gesetze im Kiez und will sie auch gar nicht ändern.
Als Zuschauer kann man interessanterweise das Verhalten aller nachvollziehen - außer das des Opfers, das sogar richtig unsympathisch ist.
Das ist das Schöne an dem Film. Das Handeln der Figuren ist so authentisch und logisch, dass Sie mit allen mitgehen und sich dann aber plötzlich an einem dead end fühlen und sagen: Oh, das ist aber falsch. Ich habe nach der Premiere mit Leuten gesprochen, die auch mit Afrim gut mitfühlen konnten. Wir wollten keinen routinierten Gewalttäter zeigen. Die Ambivalenz macht den Zuschauer auch ein wenig orientierungslos und damit offen für die Geschichte. Das hat Drehbuchautor Jürgen Werner sehr gut gemacht.
Der bislang eher Seichtes geschrieben hat, etwa die Drehbücher zu "Marienhof" und "Forsthaus Falkenau".
Das zeigt immer wieder, wie falsch dieses Schubladendenken von uns allen ist. Das ist in der modernen Medienwelt schon lange passé. Wenn man die besten Regisseure heute sieht - Paul Haggis zum Beispiel, der bis zu seinem 50. Lebensjahr nur amerikanische Serien und mit "L. A. Crash" überhaupt seinen ersten Film gemacht und gleich einen Oscar bekommen hat. Ich kenne ihn persönlich und er hat schon lange versucht, Kinofilme zu machen, ist aus der Serienschublade aber nicht rausgekommen. Jetzt ist er einer der gefragtesten Regisseure in Hollywood. Das, was man tut, um sein Leben zu finanzieren oder weil es einem Spaß macht, sagt nichts über die Fähigkeiten aus. Lange Zeit steckte auch ich in Schubladen fest und war ein Regisseur, der mal nur Action, mal nur Komödie, mal nur frauenaffine Themen machen konnte. Aber wenn man die Chance bekommt, etwas anders zu machen, kann man es genauso gut.
Ist Berlin-Kreuzberg der ideale Ort für diese Geschichte?
Wir haben sehr lange diese Hauptlocation - das Antiquariat, der Spielplatz, die Straße - gesucht und wir haben auch mehrere Sachen gefunden, die anfänglich sehr gut aussahen, weil es so ruhige Straßen waren, wo die Anwohner sehr kooperativ waren, wo wir als Filmteam die Kontrolle übernehmen und da viel leichter arbeiten konnten. Mir fehlte da aber immer was. Mir fehlte der Geruch von Kreuzberg. Mir fehlte das, was man mit Farbe, mit Kostümen und Komparsen nicht erreichen kann. Mir fehlte die Authentizität.
Wie fanden Sie die?
Ich war mit dem Kameramann privat in der Ecke, habe diesen Copyshop auf der Adalbertstraße gesehen und den Spielplatz und gesagt: Das ist es. Da haben natürlich alle gefragt: Seid ihr verrückt?! Dort kann man nicht drehen, das ist mittendrin. Da kann man nicht die Straße sieben Tage blockieren mit Parkverboten, das machen die Anwohner nicht mit. Ganz zu schweigen vom lauten Verkehr, den engen Straßen. Und das machte das Drehen tatsächlich schwer. Auf der anderen Seite aber war ich komplett überrascht über die Kooperativität der Menschen dort. Die haben uns so geholfen, total mit angepackt. Der Film funktioniert nicht nur wegen der hervorragenden Schauspieler wie Götz George, sondern vielleicht vor allem, weil er von der ersten Einstellung an ein Gefühl vom Mikrokosmos Kreuzberg vermittelt, der aber symbolhaft auch für ähnliche Orte in München oder so steht.
Kann ein Spielfilm wie "Zivilcourage" beim Zuschauer mehr auslösen als eine harte Doku über Kreuzberg?
Da bin ich sicher. Ich hoffe sehr, dass die ARD den Film so bewerben wird, dass viele Leute ihn sehen werden, hoffentlich auch viele junge. Und so ein Film sollte unbedingt auch an Schulen gezeigt werden. Ich glaube, über diesen Film kommt man sehr gut in eine Diskussion, er spricht alle Bevölkerungsschichten an; gerade weil er nicht political correct ist, wird er die Leute in Charlottenburg genauso provozieren wie die in Kreuzberg. Und die Provokation des Films führt hoffentlich zu einer Diskussion, die unheimlich wichtig ist in unserer Gesellschaft.
"Zivilcourage", Mittwoch, 27. Januar, 20.15 Uhr, ARD
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour