Regisseur Mike Leigh über das Showbusiness: "Es muss Erwachsenenfilme geben"
"Another Year" heißt der neue Film des britischen Regisseurs und Philanthropen Mike Leigh. Ein Gespräch über Improvisation und einen neuen infantilen Faschismus in der Politik.
taz: Herr Leigh, Sie sind im Kino einer der letzten Verteidiger des Alltäglichen. Im Zeitalter der Spektakel favorisieren Sie weiterhin das entschieden Unspektakuläre.
Mike Leigh: Ich bin doch nicht gegen Filmspektakel! Ich arbeite wie alle anderen auch im Spektakelgeschäft. Ich halte meinen neuen Film, "Another Year", ganz ernsthaft für einen epischen Actionfilm, denn er dreht sich um das Abenteuer Leben. Und es muss neben all dem kindischen Kino, von dem wir umgeben sind, auch Platz für Erwachsenenfilme geben. Aber wenn Sie behaupten, wir lebten in einer Gesellschaft der Filmspektakel, so meinen Sie unverzeihlicherweise nur Hollywood.
Ich meine nicht nur Hollywood. Aber gut: vor allem.
Die Anfänge: Am Theater startete der heute 67-Jährige Mitte der sechziger Jahre seine Autoren- und Regiekarriere; seinen ersten Film, die sozialrealistische Studie "Bleak Moments", drehte Mike Leigh 1971 - fürs Fernsehen.
Im Kino: Erst 1988 wagte er mit "High Hopes" den Übertritt ins Kino - und gehört seither zu Großbritanniens bedeutendsten Filmemachern. Meisterstücke wie "Naked" (1993), "Secrets and Lies" (1996), "Topsy-Turvy" (1999) und "Happy-Go-Lucky" (2008) zeigten außerdem, dass Leigh sich keineswegs auf Naturalismus und Sozialtristesse beschränkt.
Man hat als Zuschauer, wenn man sich Mike Leighs Filmen aussetzt, nicht allzu viel Freiheit: Etwas an ihnen zieht einen schon nach wenigen Minuten unweigerlich in die jeweilige Erzählung; man beginnt mit Leighs fiktiven Figuren regelrecht zu leben, sich für sie zu interessieren, als gäbe es sie tatsächlich und als stünde für sie wirklich etwas auf dem Spiel. "Another Year", die jüngste Arbeit des Regisseurs, ist ein gutes Beispiel für diese Sogwirkung.
Die gut zwei Stunden, die das Werk in Anspruch nimmt, erscheinen am Ende viel zu kurz; so plastisch begegnen einem die Charaktere, dass man Mühe hat, Abschied zu nehmen von dem sozialen Mikrokosmos, den der glühende Philanthrop Mike Leigh hier ausbreitet. Sein Film "Another Year" berichtet von Einsamkeit, Eifersucht, Alkoholismus und Neurosen, aber auch von Solidarität, Empathie und Lebenslust - von ganz alltäglichen Dingen also, die im Lauf eines Jahres zusammenkommen; und es wird, mehr noch als sonst in Mike Leighs Werk, von einem fabelhaften Ensemble getragen, das größtenteils aus alten Bekannten und langjährigen Mitarbeitern des Regisseurs besteht: Um das zentrale Ehepaar, souverän dargestellt von Ruth Sheen und Jim Broadbent, gruppieren sich virtuose Schauspielkräfte wie Lesley Manville, Martin Savage und Phil Davis. (sg)
"Another Year". Regie: Mike Leigh. Mit Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley Manville u. a. Großbritannien 2010, 129 Min.
Hollywood ist bloß ein winziger Teil dessen, was im Weltkino produziert wird. Reden wir also nicht von einer Spektakelgesellschaft, denn das würde bedeuten, vor Hollywood, diesem selbst ernannten Vatikan des Kinos, in die Knie zu gehen. Der europäische Film ist viel profunder. Insofern halte ich mich nicht für einen isolierten Aktivisten, denn Hollywood hat mit dem, was ich mache, verdammt wenig zu tun.
Bedeutet Ihnen der Begriff Unterhaltung etwas?
Absolut! Ich bin im Showbusiness tätig. Und ich bin ebenso sehr Humorist wie Tragöde. Von frühester Kindheit an hat mich das Kino genauso fasziniert wie das Theater, das Varieté, der Zirkus, die Vaudeville-Szene. Man hat als Filmemacher nicht nur für harte Wahrheiten, sondern auch für Genuss und Vergnügen zu sorgen. Meine Arbeiten sind gebaut wie eine Menüfolge, ich betrachte ihre Struktur wie ein Küchenchef, ich denke gastronomisch!
Die Frau, die Lesley Manville in "Another Year" so aufsehenerregend spielt, ist eine sehr typische Mike-Leigh-Figur: hypernervös, ziemlich neurotisch, in ihren Manierismen auch sehr stilisiert.
Für mich ist das eine vollkommen reale Figur. Man muss nicht lange suchen, um in der wirklichen Welt Menschen dieser Art zu finden. Als ich heute im Hotel frühstückte, konnte ich durch die Glasscheibe mindestens sieben oder acht Passanten sehen, die - wie Sie sagen würden - perfekte Darsteller in einem Mike-Leigh-Film wären.
Der japanische Meisterregisseur Yasujiro Ozu gehört zu ihren Idolen. Er war Klassizist, ein großer Konservativer der avancierten Form. Sehen Sie da eine Verwandtschaft zu Ihren eigenen Filmen?
Klar. Aber Sie werden noch ein paar weitere wichtige Einflüsse finden. Für "Another Year" habe ich mich etwa an Tschechow, Beckett, Harold Pinter und Vermeer orientiert.
An Vermeer?
Sicher. Ich denke beim Drehen nicht unentwegt an solche Vorbilder. Ich bin mir ihrer einfach nur bewusst. Diese Einflüsse sind über ein halbes Jahrhundert in mich eingesickert.
Ist die Malerei eine so große Inspiration für Sie?
Mein nächster Film wird sich um William Turners Leben und Werk drehen. Wenn ich das nötige Geld dafür auftreiben kann. Der Turner-Film wird empfindlich teurer werden als meine ebenfalls historische Arbeit "Topsy-Turvy". Schon weil wir angesichts der Karriere dieses naturbesessenen Malers nicht alles im Studio drehen können. Turner ließ sich bei heftigem Unwetter an den Mast eines Schiffes binden, nur um einen Sturm malen zu können! So etwas lässt sich im Atelier nicht gut nachstellen.
Welche Rolle spielt Ihr langjähriger Kameramann Dick Pope, wenn es um das Malerische Ihrer Filme geht?
Eine gewaltige Rolle. Er hat seit "Life Is Sweet" (1990) alle meine Filme fotografiert. Wir denken beide sehr visuell, haben über die Jahre ein fundamentales gegenseitiges Einverständnis entwickelt. Bestimmte Aufnahmen nennen wir etwa gern "Hommage an Hopper". Wir wissen dann sofort, was gemeint ist.
Aber glücklicherweise imitieren Sie weder Hopper noch Vermeer.
Klar, wir machen ja keine Wim-Wenders-Filme. Am Ende geht es nur darum, das Publikum mit der Erzählung zu erwischen, nicht darum, es an Kunst denken zu lassen.
Ihre Dialoge sind grundsätzlich improvisiert. Sie schreiben nie Drehbücher, nur Storyentwürfe.
Ich glaube fest daran, dass Kunst grundsätzlich aus der Improvisation entspringt - als Synthese aus Ordnung und extemporierten Ideen.
Alle Kunst ist improvisiert? Gälte das auch für Piet Mondrians extrem kalkulierte Malerei?
Bei allem Respekt: Meine These über Kunst und Improvisation ist nicht widerlegbar. Da nun ausgerechnet Mondrian anzuführen, nur um Ihren Widerspruch anzubringen, ist wirklich gemogelt! Künstler seiner Art sind nicht gerade die Regel.
Auch Ihren Filmen sieht man die Improvisation nicht an. Sie wirken extrem kontrolliert, da gibt es keine Spur von Chaos. Sie proben so lange, bis jedes Wort sitzt?
Natürlich, das ist die Kunst der Improvisation. Man gewinnt den Eindruck vollkommener Spontaneität - und doch ist alles genau geplant. So sollten aber alle Filme sein, nicht nur meine.
Sie arbeiten in Großbritannien. Welche Rolle spielt das jeweils herrschende politische Klima? Ertappen Sie sich dabei, wie Ihre Filme unter dem Eindruck etwa der gegenwärtigen konservativen Regierung schärfer oder härter werden?
Ich habe in den achtziger Jahren Filme gedreht, in denen es ein direktes Verhältnis zwischen meiner Arbeit und dem Thatcher-Regime gab - "High Hopes" beispielsweise, "Four Days in July" oder auch "Meantime". Es wäre aber Unsinn zu behaupten, "Another Year" hätte viel mit der Politik Gordon Browns zu tun. Inzwischen mache ich keine Filme über England mehr, ich thematisiere vielmehr die condition humaine. Aber wenn Sie mir diese Frage heute stellen, gewinnt sie an Brisanz: Denn wir haben geschafft, in Großbritannien eine radikal verantwortungslose rechte Regierung zu installieren - ich fürchte, dass es die gefährlichste und exzentrischste Regierung ist, die England je erlebt hat. Premierminister David Cameron entmachtet unter dem Deckmantel einer perversen Vorstellung von "Demokratie" eine staatliche Einrichtung nach der anderen. Camerons Demokratieverständnis geht davon aus, dass etwas erst demokratisch sein kann, wenn es in Privatbesitz ist.
Macht Ihnen das Angst?
Wir alle sind gerade dabei, aus der gemütlichen Enttäuschung, die New Labour darstellte und an die man sich gewöhnt hatte, aufzuwachen - und langsam steigt in uns allen tatsächlich Panik auf. Dann blickt man nach Amerika und findet dort eine Bewegung wie die Tea Party vor. Man muss leider befürchten, dass sich da ein weltweiter Trend zur sozialen Verantwortungslosigkeit, zu einer infantilen neuen Form des Faschismus abzeichnet. Das ist schon beängstigend.
Würden Sie sagen, Ihre Filme vermittelten Botschaften?
Ich nagle meine Zuschauer nicht mit einer Message an die Wand. Aber zweifellos beziehe ich in vielerlei Hinsicht auch Stellung. In "Vera Drake" etwa gebe ich zu verstehen, was ich davon hielte, Abtreibungen wieder illegal zu machen. "Another Year" hat keine derart simplen Mitteilungen zu machen. Aber der Film ist jedenfalls kein Plädoyer für Hass und Egoismus.
"Another Year" erscheint wie ein Katalog menschlicher Verhaltensweisen.
Stimmt. Aber ich würde davor warnen, den Film darauf zu reduzieren. Denn das würde bedeuten, dass er distanziert und klinisch wirkte. Aber meine Filme müssen emotional offen sein. Ich bin kein Wissenschaftler. Es mag schon sein, dass mein Stil auch diese Seite hat: Die kühle Beobachtung ist mir nicht ganz fern. Ich muss eben in der Lage sein, den Schmerz meiner Charaktere auszuhalten.
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