Regionalökonomie: Als sie sich Berlin zur Brust nahmen
Eine Ausstellung in der Heimatstube Burg erzählt die Geschichte der Frauen aus dem Spreewald, die als Ammen die Kinder reicher Familien in Berlin nährten.
Gurken und Leinöl sind Exportschlager aus dem Spreewald, die jeder kennt. Es gab aber auch mal einen, von dem heute kaum noch jemand weiß: Muttermilch. Spreewälderinnen stillten die Babys der Bourgeoisie in Berlin, Potsdam, Dresden und Cottbus. Allein in der Reichshauptstadt soll es um das Jahr 1900 rund 1.000 Ammen aus dem „Venedig des Nordens“ gegeben haben.
Diesem Thema widmet sich eine Sonderausstellung in der Heimatstube in Burg (Bórkowy): „Nach Berlin! Spreewälder Ammen und Kindermädchen in der Großstadt“. Die Heimatstube ist in einem alten Bauernhaus untergebracht, das auf einen historisch nachgestalteten Dreiseitenhof mit Ziehbrunnen umgesetzt wurde. Darin belegt die Ammen-Schau, eine Leihgabe des Wendischen Museums Cottbus, nur einen Raum, aber auch auf wenigen Quadratmetern gelingt es, die Geschichte der Ammen fast 100 Jahre nach ihrem Verschwinden wieder zum Leben zu erwecken. Fotos, Postkarten und andere Zeitzeugnisse geben dieser kleinen regionalhistorischen Lektion eine persönliche Note.
Früher glaubte man, die Muttermilch verderbe durch Sexualkontakte in der Stillzeit. Überhaupt galt Stillen als „animalisch“ – es schickte sich nicht für Damen der bürgerlichen Gesellschaft, ruinierte die Figur und hinderte sie an der Erfüllung ihrer ehelichen und gesellschaftlichen Pflichten. Wer es sich leisten konnte, holte deshalb eine Nähramme ins Haus. Dabei galten die Dienstmädchen aus dem Spreewald als gesund, fleißig, treu, genügsam und gehorsam. Mit ihren ausladenden Hauben aus bestickten Tüchern waren sie zudem ein Statussymbol.
Bessere Heiratschancen
Für viele der Frauen, so erzählt es die Ausstellung, galt solch eine Anstellung als Vorbereitung auf die Ehe und das Hausfrauendasein und verbesserte damit ihre Heiratschancen. Zudem gehörten Ammen zu den am besten verdienenden Dienstboten in den herrschaftlichen Häusern.
Aber warum ausgerechnet der Spreewald? Der erste Hinweis auf sorbische Ammen in Berlin führt in die Familie des deutschen Kaisers. Anna Cludi aus Burg war den kaiserlichen Spähern wegen ihrer prächtigen Brust aufgefallen und wurde mit einer Kutsche abgeholt. Sie stillte Prinz Adalbert von Preußen, das dritte Kind von Wilhelm II. und Auguste Viktoria. Auch der zweitgeborene Sohn des Kronprinzen Wilhelm und seiner Frau Cecilie Herzogin zu Mecklenburg, Louis Ferdinand Prinz von Preußen, wurde von einer Amme aus dem Spreewald genährt.
Einen der Zwillingssöhne von Wilhelm Fürst von Hohenzollern und seiner Frau Maria Theresia legte sich Marie Jank aus Straupitz an die Brust. Dass sie ihre eigenen Kinder bei der Schwiegermutter im Spreewald ließ, um sich ein Jahr in Potsdam zu verdingen, war eine pragmatische Entscheidung: Das Haus der Familie brauchte ein neues Dach. Ihr „Amming“ – so die Bezeichnung für einen von Ammen gestillten Säugling – hielt später den Kontakt bis zu ihrem Tod aufrecht. Auch von Pauline Ruben aus der Nähe von Cottbus erfährt man: Sie war bei zwei Berliner Kaufmannsfamilien tätig und, so erzählte sie es in ihren letzten Lebensjahren, begleitete diese auch auf Reisen. In Monte Carlo hielt ihr ein Portier die Tür zum Hotel auf.
Die Vermittlung der Ammen erfolgte anfangs vor allem auf Gesindemärkten, später auch über Annoncen privater Vermittler. Die meisten Frauen fanden wohl über persönliche Kontakte und Empfehlungen eine Anstellung in der Stadt.
Beuteten Lausitzer Familien das Image der gesunden Spreewald-Amme gewerbsmäßig aus? Das legen Schriften von August Bebel nahe. Der Sozialdemokrat schrieb schon 1879 über die „Ammenzüchterei, die darin besteht, dass die Landmädchen sich schwängern lassen, um nach der Geburt ihrer Kinder sich als Ammen an eine wohlhabende Berliner Familie vermieten zu können“. „Mädchen“, so Bebel, „die drei und vier uneheliche Kinder gebären, um sich als Amme verdingen zu können, sind keine Seltenheit, und je nachdem sie bei diesem Geschäft verdienen, erschienen sie den jungen Männern des Spreewaldes begehrenswert.“ Die präsentierten Beispiele weisen aber eher darauf hin, dass die Frauen meist in intakten familiären Verhältnissen lebten und nur für eine begrenzte Zeit ihre leiblichen Kinder in der Obhut ihrer Familien ließen.
Überkam die Ammen Heimweh, besuchten sie sorbische Gottesdienste in Berlin. Wie groß die Sehnsucht nach der Heimat war, zeigt ein Gedicht, das in der Ausstellung zu lesen ist: „In meines Vaters Blockhaus klein, da möchte ich doch lieber sein. Die Herrschaft mir nur Liebes thut, das Essen schmeckt ja auch sehr gut, doch Appetit hab ich so arg auf Leinölbrod mit frischem Quark.“
Von Zille gezeichnet
Viele Künstler setzten den Spreewälder Ammen, die mit den ihnen anvertrauten Kindern oft im Tiergarten zu sehen waren, ein Denkmal: Theodor Fontane beschrieb sie, Max Liebermann malte sie, Heinrich Zille zeichnete sie – biertrinkend und stillend.
Als das Stillen durch Lohnammen ab den 1920er Jahren stark zurückging, weil Ersatzmilch verfügbar wurde, verschwanden auch die Spreewälder Ammen aus dem Berliner Stadtbild.
■ „Nach Berlin! Spreewälder Ammen und Kindermädchen in der Großstadt“. Bis März 2014 in der Heimatstube Burg, Am Hafen 1, Burg (Bórkowy). Mo.–So. 13–17 Uhr
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