Regierungskrise in Kanada: Justin Trudeau erklärt Rücktritt
Kanadas einstiger progressiver Hoffnungsträger ist nicht nur in den Umfragen zutiefst unbeliebt. Auch in seiner eigenen Partei wächst der Widerstand.
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Das seit Monaten blockierte Parlament, in dem Trudeau keine Mehrheit mehr hatte, pausiere bis Ende März, kündigte Trudeau an. Er hoffe, dass sein Rückzug dazu führen werde, die Temperaturen herunterzukühlen. Seine Person habe offensichtlich zur Polarisierung beigetragen, und mit einem neuen Premier werde es hoffentlich möglich, Einigung und Verständigung zu finden.
Gleichzeitig eröffnete Trudeau auch mit Seitenhieben auf den konservativen Oppositionsführer Pierre Poilievre. Der hatte Trudeau bereits Mitte Dezember zum Rücktritt aufgerufen und sofortige Neuwahlen gefordert, als Trudeaus langjährige Vizepremierministerin und Finanzministerin Chrystia Freeland unter Berufung auf heftige Meinungsverschiedenheiten mit Trudeau ihren Hut genommen hatte.
Seit 2015 regiert Trudeau mit seiner Liberalen Partei das Land, ist zuletzt im Jahr 2021 zum dritten Mal gewählt worden. Aber der heute 53-Jährige, der als progressiver Hoffnungsträger begonnen hatte und zunächst im In- und Ausland große Beliebtheit genoss, hat diese Popularität seit geraumer Zeit verloren. Bei Umfragen sagten jetzt 73 Prozent der Kanadier*innen, Trudeau solle sich zurückziehen. Auch über 40 Prozent der Wähler*innen der Liberalen Partei stimmen dem zu.
Bange Blicke auf den Nachbarn im Süden
Und auch innerhalb der Partei rumort es heftig. Dafür war der Rücktritt Chrystia Freelands im Streit um Trump und um Steuerfragen nur das sichtbarste Symptom. Mit seiner Erklärung vom Montag kommt Trudeau auch einer Gremiensitzung seiner Liberalen Partei am kommenden Mittwoch zuvor. Nicht wenige Beobachter*innen hatten vermutet, dort würde der Bruch der Partei mit Trudeau in drastischer Form deutlich werden.
Aktueller Hintergrund der politischen Krise ist auch der bevorstehende Amtsantritt Donald Trumps in den USA. Trump hat angekündigt, gegen beide US-Nachbarländer, Kanada und Mexiko, an Tag 1 seiner Amtszeit 25-prozentige Strafzölle verhängen zu wollen, weil sie seiner Ansicht nach zu wenig tun, um illegale Grenzübertritte aus ihren Ländern in die USA zu verhindern. Die USA und Kanada sind jeweils gegenseitig wichtigste Handelspartner.
Trudeau war im November zu Trump in dessen Residenz in Florida gereist, um das Thema mit ihm zu besprechen – offensichtlich ohne Erfolg. Auf Nachfrage der Journalist*innen, ob die Regierung mit Trudeaus angekündigtem Rückzug nun noch schlechter aufgestellt sei, um mit der Herausforderung einer zweiten Trump-Amtszeit umzugehen, erklärte Trudeau lediglich, er und die 2021 gewählte Regierung würden mit voller Kraft daran weiterarbeiten, die Interessen der Kanadier*innen zu vertreten.
Vor den frierenden Journalist*innen, die er bei Minusgraden vor seinem Amtssitz in Ottawa einbestellt hatte, ließ Trudeau Meilensteine seiner langen Amtszeit passieren: vom Umgang mit der Corona-Pandemie bis zur Unterstützung der Ukraine. Darauf sei er stolz und freue sich, nunmehr den progressiven Staffelstab, auch für den kommenden Wahlkampf, an eine Nachfolge übergeben zu können.
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