Regierungsbildung in Thüringen: Thüringer Wagenknechte mögen eindeutig Brombeeren
Der BSW-Parteitag in Ilmenau stimmt überraschend klar für eine Koalition mit CDU und SPD. Allerdings fehlt der Dreierkonstellation im Landtag eine Stimme zur absoluten Mehrheit.
Die Ruhe des Thüringer Waldes schien die geradezu adventliche Eintracht in der Festhalle Ilmenau zu stimulieren. Die Thüringer BSW-Familie mit 126 Mitgliedern – immerhin zweieinhalbmal mehr als in Brandenburg – füllte kaum die Hälfte des Saales. Der gesamte Landesverband passte sogar auf ein Foto mit der angereisten Sahra Wagenknecht.
Nur angedeutet wurde, dass die Koalitionsverhandlungen Ende Oktober zu scheitern drohten, weil Wagenknecht die Friedensformel im Sondierungspapier nicht genügte. Die heikle Aufnahme neuer Mitglieder am Landesverband vorbei rechtfertigt sie heute mit den Eigenheiten einer jungen Partei, auch parallele Anträge an den Bundesvorstand zu berücksichtigen. „Schwamm drüber!“, kommentiert die Landesvorsitzende Katja Wolf, „das passiert uns nicht nochmal“. Nach einem klärenden Gespräch mit der Bundesvorsitzenden habe sie immerhin aushandeln können, dass auch der Thüringer Landesverband in eigener Regie weitere Mitglieder aufnehmen durfte. „Es tut mir in der Seele weh, wenn versucht wird, einen Keil zwischen Sahra und mich zu treiben“, begann Wolf ihre Rede an den Parteitag, den sie „historisch“ nannte.
Sie stellte die ablesbaren BSW-Spuren im Koalitionsvertrag heraus, die über Symbolpolitik hinausgingen. Nicht nur in der Präambel werden diplomatische Friedensbemühungen um Frieden in der Ukraine favorisiert. Auch im maßgeblich vom BSW mitgeprägten Bildungskapitel wird die Schule als ein „Lernort für Freiheit, Toleranz, Völkerverständigung und Frieden“ beschrieben. Die Verhandlungsführung des BSW sei von den Maximen „den Alltag der Bürger spürbar verbessern“ und dem „Fokus auf einen funktionierenden Staat“ bestimmt worden. „Wir sind die einzige echte politische Alternative in Thüringen“, spielte sie auf die AfD-Konkurrenz an.
Emotionaler präsentierte sich ihr Ko-Vorsitzender Steffen Schütz. Er beschwor die „ostdeutsche DNA“ größeren Improvisationsvermögens und geißelte die „Kriegslüsternheit der politischen Klasse“. „Wir werden eine Zumutung sein“, drohte er den „Kriegslüsternen“ und jenen an, die die Probleme der einfachen Bürger vergessen.
Sahra Wagenknecht lastete die Verstimmungen und Kommunikationsprobleme der „Anspannung und der Fehlerangst in einer jungen Partei“ an. Es sei eine Gratwanderung gewesen, zu entscheiden, wann man einen Markenkern schützen und damit glaubwürdig bei Wählern bleiben musste, und wann man sich auf Kompromisse einlassen konnte. Mit Blick auf den beginnenden Bundestagswahlkampf kündigte sie an, „auch auf der Bundesebene ein Machtfaktor“ werden zu wollen.
Dieser selbstbewusste neue Anspruch des Bündnisses entspringt einem auch in Ilmenau spürbaren Stolz auf überraschende Erfolge in vier Wahlen 2024. Man hat geschuftet und eine Partei aufgebaut, in Thüringen 15,8 Stimmenprozent geholt und einen Koalitionsvertrag gezimmert. Das schweißt zusammen. Man duzt sich generell, man umarmt sich und klopft sich auf die Schulter. „Wir sitzen in einem Boot, und alle haben ein Paddel in der Hand“, benutzte Katja Wolf das bekannte Bild, erweiterte es aber um den Satz: „Jetzt wünsche ich mir nur noch, dass alle in dieselbe Richtung paddeln!“
Bei den Mitgliederstatements überwog die Mahnung, die Chance zu sofortiger Mitgestaltung zu nutzen, anstatt sich zunächst in die Opposition zurückzuziehen. Skepsis wurde eher gegenüber den Koalitionspartnern CDU und SPD laut. Bei der Abstimmung war das nur für 26 Mitglieder ein Verweigerungs- und für zwei ein Enthaltungsgrund. Inhaltliche Gründe wurden kaum genannt.
Eigentlich fehlte am Schluss nur noch der Rütlischwur „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern (und Schwestern)“. Deutlich wurde bei aller Aufbruchstimmung und Friedensromantik aber auch, dass nur der überwiegend aus der Linken „desertierte“ Teil dieser jungen Partei die Mühen der Ebene schon kennt. Haushaltsvorbehalte, Finanzierungsfragen überhaupt wurden nur angedeutet. Einige Tage zuvor hatte die MDR-Fernsehdebatte „Fakt ist“ den Thüringer Koalitionsvertrag bereits auf den Prüfstand gestellt. Von einem großen Sprung nach vorn kann beispielsweise bei den realistischen Zahlen von Lehrer- und Polizistenneueinstellungen nicht die Rede sein. Und die für jeden Bürger in maximal 20 Minuten erreichbare medizinische Versorgung ist in der Praxis fast flächendeckend längst Realität.
Der zentrale Punkt der Mehrheitsbeschaffung für die „Brombeerkoalition“ aber wurde überhaupt nicht angesprochen. Sie verfügt nur über genau die Hälfte der 88 Erfurter Landtagssitze. Am 12. Dezember aber will sich CDU-Fraktionschef Mario Voigt bereits zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Kann die Linke ein Partner sein und braucht es dafür eine Vereinbarung, die nicht Tolerierung bedeutet? Während des zweiten Teils des Ilmenauer Parteitages wählte das Thüringer BSW dann am Nachmittag seine Kandidaten für den wahrscheinlich im Februar zu wählenden Bundestag.
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