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Reform der BehindertenhilfeNachbesserungen am Teilhabegesetz

Kurz vor der Verabschiedung hat die große Koalition nochmal nachgebesert. Unter anderem wird der Zugang zur bisherigen Eingliederungshilfe nicht eingeschränkt.

Gegen das Gesetz wurde vor dem Brandenburger Tor protestiert – ein wenig hat es gebracht Foto: dpa

Berlin epd | Nach anhaltender Kritik am Bundesteilhabegesetz hat sich die große Koalition kurz vor der geplanten Verabschiedung der Reform der Behindertenhilfe auf Änderungen verständigt. Wie Bundestagsabgeordnete von Union und SPD am Montag in Berlin mitteilten, werde im Gesetz nochmals klargestellt, dass der Zugang zur bisherigen Eingliederungshilfe nicht eingeschränkt wird. Verbände hatten befürchtet, dass wegen einer neuen Kriterienregelung beispielsweise Blinde, Hörgeschädigte und psychisch kranke Menschen aus dem System herausfallen könnten.

Die zunächst geplante Regelung soll nun erst wissenschaftlich evaluiert und in den Bundesländern erprobt werden. Auf Grundlage dieser Daten werde dann eine neue Regelung geschaffen, hieß es. Die könnte allerdings erst 2023 inkraft treten. Auf weitere Verbesserungen verständigten sich die Fachpolitiker den Angaben zufolge unter anderem im Bereich Pflege und Bildung. Zudem wurde der individuelle Wunsch der Betroffenen beim Wohnen und bei der Assistenz nochmals gestärkt, hieß es.

Kritik kam von der Opposition. Es sei nur „an den schlimmsten Stellen notdürftig geflickt“ worden, erklärte die Grünen-Abgeordnete Corinna Rüffer. Der angekündigte Ausstieg aus dem bestehenden Fürsorgesystem sei der Koalition nicht gelungen.

Die Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Ulla Schmidt (SPD), lobt die Modifikationen des geplanten Bundesteilhabegesetzes, auf die sich Union und SPD verständigt haben. „Jetzt gibt es Änderungen, die ein entscheidender Schritt nach vorne sind“, sagte die Vizepräsidentin des Bundestages den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstagsausgaben). „Viele unserer Forderungen sind eingeflossen.“

taz.mit behinderung

Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.

Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.

Schmidt verwies darauf, dass zum Beispiel Menschen mit Behinderung, die in einer Werkstatt arbeiten, in Zukunft mehr Geld bekommen sollen. „Hunderttausende Menschen haben für ein besseres Bundesteilhabegesetz gekämpft, haben Unterschriften gesammelt, sind auf die Straße gegangen“, sagte die ehemalige Bundesgesundheitsministerin. „Die Basis hat etwas bewegt.“

Ziel des Bundesteilhabegesetzes aus dem Haus von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist es, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Die Reform sieht unter anderem vor, dass Behinderte mehr Geld sparen und mehr von ihrem Einkommen behalten können. Zudem soll der Wechsel von Behindertenwerkstätten in den normalen Arbeitsmarkt erleichtert werden, indem Arbeitgeber Zuschüsse beantragen können.

Derzeit beziehen rund 700.000 Menschen Eingliederungshilfe, wofür Länder und Kommunen pro Jahr rund 17 Milliarden Euro ausgeben. Die Reform führt nach Schätzungen des Bundesarbeitsministeriums zu zusätzlichen jährlichen Ausgaben von rund 700 Millionen Euro im Jahr. Das Gesetz soll am Donnerstag abschließend im Bundestag beraten werden.

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2 Kommentare

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  • Genaugenommen ist auch die Gefahr, in ein Heim zwangseingewiesen zu werden für Menschen mit hohem Assitenzbedarf, nicht vom Tisch.

     

    Was Herr Schiewerling da als Antwort gab, ist als kryptisch zu bezeichnen. Denn einerseits ist natürlich der Wahlfreiheit der Betroffenen Rechnung zu tragen, das machte er "unmissverständlich" klar. Dennoch, so meinte er sinngemäss, dürfe natürlich auch der Leistungsträger da nicht über Gebühr beansprucht werden und es müsse ein Aushandeln geben. Wie er das genau meinte, diese Antwort blieb er schuldig.

     

    Hiesse das eine Deckelung der Bezahlung, würde das die Einweisung durch die Hintertür bedeuten. Menschen mit schwerer Behinderung würden somit durchs Amt erpressbar, da sie ihre Assistenz nicht mehr bezahlen könnten.

     

    Mit dem Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention, der freien Wahl, wo, wie und mit wem man leben will, hätte das allerdings nichts gemein. Doch genaugenommen hat das ganze Bundesteilhabegesetz weit ausserhalb unserer Menschenrechte angesiedelt. Vielmehr wirkt es wie ein Werk, das auf utilitaristischem Gedankengut fusst.

     

    Menschen mit Behinderung werden damit wieder, auch wenn sich PolitikerInnen hüten werden, es so auszudrücken, zu Kostenfaktoren und "Ballastexistenzen" degradiert. Das als unsere Teilhabe zu verkaufen, ist schon mehr als dreist!

  • Was Frau Ulla Schmitt nicht sagt, ist, dass in den Werkstätten bis heute kein Mindestlohn gezahlt wird und das mit einem Kniff, dass die Arbeit in einer WfbM als "arbeitsähnlich" definiert wird.

     

    Was sie auch nicht sagt, ist, dass damit weiterhin Tausende von behinderten Menschen in den Sondersystemen gehalten werden sollen, angelockt mit ein bisschen mehr Geld. Eine Alternative dazu würde schwerstbehinderte Menschen deutlich schlechter stellen.

     

    Was sie ebenfalls nicht sagt, ist, dass die arbeitsfähigen Menschen in der WfbM ihr erarbeitetes Geld mit den noch schwerer behinderten Menschen in der WfbM teilen müssen, ihr Einkommen also noch sinkt. Und diese schwerstbehinderten Menschen dann gerne in einem Raum ohne echte Anreize, ohne echte Tagesstruktur und mit Zwangspooling untergebracht sind. Verwahranstalt eben. Mitten in Deutschland im Jahre 2016.

     

    Eltern, die diese desaströse Unterbringungsform anprangern und nach Alternativen, die das Leben Ihrer Töchter und Söhne wertschätzen, suchen, werden dabei gerne abgewimmelt und deutlich schlechtergestellt.