Rede von Betancourt vor dem EU-Parlament: Das Wort als Waffe
Die kolumbianische Politikerin Ingrid Betancourt erzählt in einer bewegenden Rede vor dem EU-Parlament von ihrer Zeit als Geisel - und kritisiert die Konsumgesellschaft. Ein Ortstermin.
Sie stockt. Sie versucht noch zu lächeln. Vergeblich. Sie hält sich die Hände vors Gesicht. Doch ihre Tränen sind nicht zu übersehen. Dann setzt der Applaus ein. Zaghaft anschwellend zu einem rhythmischen Klatschen. Und Ingrid Betancourt findet die Worte wieder. "Die Ärzte", erklärt die Frankokolumbianerin den Mitgliedern des Europäischen Parlaments, "haben ein Wort dafür: posttraumatische Belastungsstörung."
Mehr als sechs Jahre war die einstige Präsidentschaftskandidatin der Grünen in Kolumbien Geisel der linksgerichteten Guerilla-Bewegung Farc. Erst Anfang Juli war Betancourt befreit worden. Am Mittwoch ist die 46-Jährige nach Brüssel gekommen, um sich zu bedanken - beim Europäischen Parlament. Und so erleben die gern als Brüsseler Bürokraten verschrienen Parlamentarier eine außergewöhnliche Lehrstunde in Emotion.
Während ihrer Geiselhaft habe es viele Initiativen von Freiheitskämpfern und Menschenrechtsaktivisten für sie gegeben, sagt Betancourt. Doch begonnen habe alles hier, im Europaparlament. Einen solchen "Tempel der Worte" wünsche sie sich auch für Lateinamerika.
Vor fünf Jahren habe sie im Dschungel die Radioübertragung einer Plenarsitzung "aus diesem Saal" gehört, bei der es um ihr Schicksal ging. "So habe ich gespürt, dass ich nicht allein bin." Das Parlament sei "die Plattform, durch die die ganze Welt erfahren hat, wie barbarisch wir behandelt wurden". Die Worte der Abgeordneten hätten sie befreit, lange bevor sie physisch befreit wurde. "Danke, dass Sie Ihre Herzen geöffnet haben".
Nur zu Beginn der halbstündigen Rede fällt es schwer, die schmale Frau mit dem eleganten, schwarzen Mantelkleid und dem rot-weißen Halstuch mit dem Bild einer verwahrlosten Geisel zusammenzubringen. Doch dann schildert sie mit einer berührenden Authentizität das Schicksal ihrer rund 3.000 Leidensgenossen, die weiterhin von der Farc gefangen gehalten werden. Sie seien im "Grab des Dschungels" wie Tiere an Bäume gekettet und von Insekten geplagt, für die es nicht einmal Namen gebe. Auch wenn ihre Rede mehrfach durch tränenerstickte Sprachlosigkeit unterbrochen wird, ist es vor allem die Kraft ihrer Worte, mit der Betancourt das Auditorium fesselt. Diese Kraft, so fordert Betancourt, sollten die Parlamentarier auch nutzen: "Das Wort ist die schärfste aller Waffen. Worte sind die Lösung - und glauben sie mir, da bin ich mir ganz sicher."
Deshalb verliest sie nicht nur die Namen von rund einem guten Dutzend Geiseln in Kolumbien, in der Hoffnung, dass diese sie auch am Radio hören könnten. Sie erinnert auch an die birmesische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi, die gerade einen Hungerstreik begonnen habe und "mehr denn je unsere Worte" brauche.
Bei all ihrem Lob für das EU-Parlament spart Ingrid Betancourt nicht mit Kritik an der auf Konsum und Aufstieg fixierten Gesellschaft, die der Farc und anderen terroristischen Organisationen erst den Nachwuchs beschere. Denn auch die jugendliche Landbevölkerung in Kolumbien würde heute von einem iPod träumen. Da dies für die Koka-Bauern im Teenager-Alter aber unerreichbar bleibe, sei der Betritt zur Farc eine der wenigen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg - selbst wenn sie dafür zum "Kanonenfutter eines sinnlosen Krieges" würden.
Auch viele der Zuhörer haben während der Rede Tränen in den Augen. Selbst die Dolmetscher, welche die auf Französisch und Spanisch gehaltene Rede in die 23 Sprachen der Parlamentarier übersetzen, können ein gelegentliches Sniefen nicht unterdrücken. Hans-Gert Pöttering, der Präsident des Brüsseler Parlaments, sagt später, es habe in diesem Hause selten eine Stunde mit solch tiefen menschlichen Empfindungen gegeben. Der 62-jährige CDU-Politiker muss es wissen, er ist bereits seit 1979 Mitglied des Parlaments.
Die Mehrheit der Abgeordneten wird sich an die außergewöhnliche Rede dennoch nicht erinnern können. Anders als die völlig überfüllten Besucherränge sind die Stühle im Plenum allenfalls zu einem Drittel besetzt. Die Anwesenden aber verabschieden Betancourt minutenlang mit stehenden Ovationen.
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