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RechtsmedizinDer Folter-Dokumentar

Der Röntgenspezialist Herman Vogel untersucht mit einem Kernspin-Tomographen die Opfer von Krieg und Folter. Misshandlung und Folter sind Teil unseres Lebens, sagt der 67-Jährige.

Vogel führt einen Kampf gegen Gewalt, Folter und Vergessen. Er will Menschen zum Nachdenken bringen - durch das Sammeln von Röntgenbildern, mit medizinischen Dokumenten von misshandelten Körpern. Bild: Miguel Ferraz

Für schwache Gemüter ist der Arbeitsplatz von Herman Vogel nichts. Hermetisch abgeriegelt hat der Trakt im Untergeschoss der Rechtsmedizin am Nordostrand der Uniklinik Hamburg-Eppendorf etwas Bedrückendes. Weiße Wände, Kacheln, medizinische Geräte aus blankem Chrom und ein unnatürlich grell-grünliches Neonlicht verbreiten ein Gefühl der Kälte, das nichts mit der Raumtemperatur zu tun hat. Dazu kommt der Leichengeruch, der das Gebäude durchzieht und sich unmöglich ignorieren lässt, sobald man die Eingangsschleuse passiert hat. Der Hauch des Todes, an den sich auch erfahrene Leichenbeschauer mitunter nicht gewöhnen können oder wollen.

Folgt man dem kleinen 67-Jährigen mit dem karierten Jackett unter einem weißen Kittel und dem grauen Haarkranz um die Glatze durch die weitgehend menschenleeren Gänge, führt er einen zu einem kleinen Raum mit einem Kernspin-Tomographen. Dort, in der hintersten Ecke des Gebäudes, weit hinter einem toten Neugeborenen, das hinter einer Sichtscheibe auf einem grünen OP-Tuch auf seine Untersuchung wartet, liegt ein in eine Decke gehüllter Leichnam. Vogel setzt sich vor zwei große Computerbildschirme, auf denen sich die schwarz-weißen Schichtaufnahmen des Körpers vor ihm abzeichnen und erklärt, wie er mit solchen Situationen umgeht. Als Arzt ist man das Leiden gewöhnt, sagt der Röntgenspezialist.

Sich gewöhnen klingt nach Abstumpfen, nach Verdrängen, nach wachsendem Zynismus gegenüber menschlicher Not, aber in Vogels Fall ist diese Interpretation wohl falsch. Seit Jahrzehnten führt der Hamburger Arzt neben seiner Arbeit an rechtsmedizinischen Instituten und Röntgenkliniken seinen ganz eigenen, persönlichen Kampf gegen Gewalt, Folter und Vergessen weltweit. Auf seine Weise, still und unaufgeregt, will er Menschen im heute so friedlichen Europa und anderswo wachrütteln und zum Nachdenken bringen - durch das Sammeln von Röntgenbildern von Gewaltopfern, mit nüchternen medizinischen Dokumenten von misshandelten Körpern, die er zu Ausstellungen und Büchern zusammenstellt.

Schätzungsweise 1.500 bis 2.000 Aufnahmen hat der 67-Jährige in den vergangenen vier Jahrzehnten gesammelt und digitalisiert. Darunter sind Fälle wie der der Frau aus Simbabwe, der ein langer Eisennagel durch den Schädel getrieben wurde. Diverse Bilder von Händen und Füßen mit abgetrennten Finger- oder Zehengliedern - Beispiele für eine unter anderem im Iran beliebte Methode, wie Vogel erzählt. "Petite guillotine", kleines Fallbeil, nennt sich das dazugehörige Gerät. Folter gilt vielfach zwar als geächtet, als mittelalterliches Übel, das die Welt auch dank internationaler Konventionen weitgehend überwunden hat. Vogel aber weiß es besser. "Da ist eine Abwehrreaktion in Deutschland, in Europa", sagt er ruhig und sachlich wie es seine Art ist. "Es ist so, dass Folter und Misshandlung Teil unseres Lebens sind."

Durchschnittlich ein- bis dreimal pro Jahr reist er durch die Welt, hat zahlreiche Kriegs- und ehemalige Krisengebiete besucht sowie Kontakte zu europäischen Rehabilitationszentren für Folteropfer und Menschenrechtsorganisationen geknüpft. Mit akademischem Interesse und wissenschaftlicher Akribie sammelt er dabei Material für seine "Radiologie der Folter" und recherchiert die Geschichten dazu. Röntgenbilder sind für ihn wertvolle Zeitdokumente mit großer Aussagekraft. "Sie erzählen über die Kräfte, die in einer Gesellschaft wirken und über die Art, wie eine Gesellschaft mit ihren Mitgliedern umgeht." Aber es ist auch eine mühsame Suche, mit der er sich nicht nur Freunde macht. Wo Folter gebilligt wird, besteht in der Regel auch kein Interesse an neugierigen Besuchern. Und selbst wenn sich Wege finden, bleibt das Unterfangen oft ergebnislos. Opfer erhalten längst nicht immer medizinische Versorgung.

Mit den trotz aller Schwierigkeiten gefundenen Aufnahmen organisiert Vogel dann weltweit Ausstellungen. Mehr als 60 waren es schon, zwischen Neuseeland und Syrien. Auf Ärztekongressen und Juristentreffen, aber auch an öffentlich zugänglichen Orten will er mit Hilfe der zu schwarz-weiß-blauen Dokumenten des Grauens geronnenen Bildern mit den Menschen ins Gespräch kommen und sie für das Thema sensibilisieren. Vogel hält Kontakt zu Menschenrechtsgruppen, denen er bei Bedarf als Berater zur Beurteilung von Folterverletzungen oder als Prozessbeobachter zur Verfügung steht. Zusätzlich publiziert er die Ergebnisse seiner Arbeit in Fachbüchern mit Titeln wie "A radiologic atlas of abuse, torture, terrorism, and inflicted trauma".

Der bisweilen etwas spröde daherkommende wissenschaftliche Charme ist gewollt, nicht nur bei seinen Veröffentlichungen in Buchform. Vogel, den die britische Zeitung Guardian jüngst zum "Röntgenaktivisten" erklärte, sieht sich weniger als Ankläger, denn als nüchternen Analyst und Archivar. Er will aufklären, nicht dämonisieren. Man solle zwar nicht glauben, dass er unbefangen sei, sagt er mit seiner ruhigen Stimme und wählt die Worte wie immer sorgfältig, aber die lautstarke Anprangerung von Missständen in einzelnen Ländern sei nicht seine Sache, nicht seine Form der Auseinandersetzung. "Sachlichkeit und Differenzierung ist immer ein vernünftiger Ausgangspunkt. Sonst kommt man zu nichts", sagt der aus Hamburg stammende Vater vierer, längst erwachsener Kinder.

Ohnehin war der Weg des Arztes zum weltweit anerkannten Folter-Dokumentar keineswegs vorgezeichnet und eher Ergebnis fachlichen Erkenntnisstrebens als Berufung von Beginn an. Schon bevor er den Spuren von Misshandlungen auf Röntgenbildern nachspürte, dokumentierte Vogel weltweit die Folgen von Gewalt, Verbrechen und Krieg. Während einer Gastprofessur in Mexiko begann er erstmals, verschiedene Formen "sozialer Gewalt" zu kategorisieren. Als Experte begutachtete der 67-Jährige früher die Verwundetenversorgung im Vietnamkrieg auf beiden Seiten der Front oder analysierte später die Herausforderungen, vor denen das Gesundheitssystem in Ex-Jugoslawien bei der Behandlung von Kriegsopfern steht. Zusammen mit Kollegen entwickelte er eine Kriegstypologie, die allein auf der Auswertung von Röntgenbildern, mit jeweils typischen Verletzungsmustern beruhte.

Je intensiver er sich über die Jahre mit Gewalt-Themen befasste, desto klarer wurde ihm auch, dass er die Folter nicht ignorieren konnte. "Ich begriff, dass die Berichterstattung über den Krieg nicht vollständig sein würde, wenn ich ihre Zwillingsschwester, die Folter, nicht mitbehandeln würde." Als ein Schlüsselerlebnis wirkte dabei schließlich ein Besuch im Tschad, den er Anfang der 1990er Jahre mit einer französischen Ärztegruppe machte und der ihm endgültig die Augen öffnete. Auf Einladung der neuen Regierung waren sie damals in das Land gekommen, um die Foltergeschichte des kurz zuvor gestürzten brutalen Habré-Regimes aufzuarbeiten und die Verletzungen der Opfer des berüchtigten Diktators zu dokumentieren.

Was Vogel im Tschad aber vor allem entdeckte, war, dass sich nicht geändert hatte, dass nicht selten dieselben Menschen wie früher auch unter den neuen Machthabern schlimmste Qualen zu erleiden hatten. Mit Grauen erfuhr Vogel während seines Aufenthalts dort unter anderem vom so genannten Schwimmbad, in dem die neue, angeblich mit so hehren Zielen angetretene Regierung ihre Gegner in winzigen Kammern bei großer Hitze zusammenpferchen ließ. "Von denen starb jeden Tag einer", sagt Vogel. Und man habe nichts tun können, sei gegen den Willen der Gastgeber nicht einmal in die Nähe des Komplexes gelangt, sagt der sonst so nüchterne Mediziner und man ahnt für einen kurzen, emotionalen Moment, was ihn wirklich antreibt. "Das ist nicht angenehm." Es war ein Erlebnis, das ihn verändert hat. Als er wieder nach Deutschland kam, war er nicht mehr derselbe. Seine Frau bemerkte es gleich. "Manchmal blickt man schon in Abgründe", ergänzt Vogel, bevor er sich wieder seiner Arbeit am Computertomographen am Ende der kahlen, weißen Gänge des rechtsmedizinischen Instituts zuwendet.

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