Reaktionen aufs Hartz-IV-Urteil: Alle tun schön zufrieden
Fast alle geben sich zufrieden mit dem Urteil des Verfassungsgerichts. Bei der Neuberechnung der Hartz-IV-Bezüge aber könnte es knallen: Aus FDP und CSU kommen Forderungen, die Leistungen zu senken.
BERLIN dpa/apn/afp/reuters/taz | Eigentlich müssten alle Politiker genervt sein angesichts der Regelmäßigkeit, mit der inzwischen vom Bundesverfassungsgericht Gesetze beanstandet werden. Andererseits will sich aber auch niemand etwas anmerken lassen – Karlsruhe ist zu folgen, also schlägt man sich besser auf die Seite der Gewinner.
Und so gehörte Sozialministerin Ursula von der Leyen, technisch gesehen Beklagte in diesem Fall vor dem Bundesverfassungsgericht, zu den ersten, die betonten, wie sehr sie das Urteil begrüße. "Besonders freut mich, dass das Kind in seiner Gesamtheit in den Blick genommen wurde, mit all seinen individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten", sagte sie. Gerade der in der bisherigen Regelung vernachlässigte Bereich von Bildung und Bedarf in der Schule müsse jetzt in den Vordergrund rücken.
Auch die SPD wollte mit dem Urteil nicht gemeint sein. Die sozialpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Anette Kramme, bezeichnete das Karlsruher Urteil als "Warnsignal für Schwarz-Gelb". Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe seien das "unterste soziale Netz". Sie eigneten sich nicht für Sozialkürzungen.
"Alle eventuellen Überlegungen, nach der NRW-Wahl bisherige Steuergeschenke derart zu finanzieren, müssen nun in der Schublade bleiben", ergänzte die SPD-Sozialpolitikerin. Nur: Hier ging es um ein Gesetz der rot-grünen Regierung, weitergeführt von einer großen Koalition.
Ehrlich freuen konnte sich dagegen die Linkspartei: Es sei "eine dramatische Ohrfeige, die da ausgeteilt wurde", erklärte der designierte Parteichef Klaus Ernst gegenüber n-tv. Das Urteil zeige auch, dass der Sozialstaat nicht der "Spielball" der Regierung sei. Sie müsse nunmehr ein Gesetz einbringen, dass eine ordnungsgemäße Festsetzung der Hartz-IV-Sätze gewähre. "Hartz IV gehört auf den Müllhaufen der Geschichte", fügte Ernst hinzu.
Auch Gregor Gysi frohlockte: "Das Bundesverfassungsgericht hat über SPD und Grüne, aber auch über Union und FDP ein vernichtendes Urteil gefällt", erklärt der Fraktionschef der Linken. "Die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder bei Hartz IV sind verfassungswidrig und nicht existenzsichernd. Damit ist der wesentliche Inhalt von Hartz IV für verfassungswidrig erklärt worden." Die Regelsätze müssten nun steigen. "Das geht richtig ins Geld."
Ähnlich erleichtert bis euphorisch sind die Einschätzungen von DGB, Sozialverbänden und Kirche. Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, sprach etwa von einer "Weichenstellung für Kinder und Familien" in Deutschland. Der Sozialverband VdK ergänzte, dass "Kinder aus Hartz-IV-Familien nicht länger in ihren Teilhabechancen gegenüber anderen Kindern benachteiligt werden" dürften. Die Verbände sehen sich endlich in der Offensive: "Die Regelsätze müssen um mindestens 20 Prozent angehoben werden", verlangt nun etwa der Paritätischer Wohlfahrtsverband.
Doch es gibt auch Gruppen, die erheblich weniger begeistert sind, vor allem die wirtschaftsnahen Kreise. Zwar nennt auch die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger das Urteil eine "schallende Ohrfeige für Rot-Grün", und erklärt das Urteil habe ansonsten "überschaubaren Folgen". Doch das sehen nicht alle Freidemokraten so.
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Martin Lindner geht sogar so weit, eine Kürzung der Regelsätze zu verlangen. "Eine Neujustierung der Bundesregierung sollte ohne Kürzungen der Regelsätze nicht vonstatten gehen", verlangte Lindner in der Rheinischen Post. Gleichzeitig sollten die Hinzuverdienstgrenzen deutlich erhöht werden, um mehr Anreize zu schaffen, eine Arbeit aufzunehmen. "Das Lohnabstandsgebot wird faktisch unterlaufen", so Lindner.
Auch der CSU-Mittelstand warnt vor der Ausweitung von Sozialleistungen. Aus dem Urteil sei keineswegs die Forderung nach beträchtlich höheren Sätzen abzuleiten, erklärte der Vorsitzende der CSU-Mittelstands-Union, Hans Michelbach. Wer dies dennoch mache, "missbraucht das Urteil für seine Zwecke".
Schützenhilfe gibt das Institut für Weltwirtschaft (IfW). Falls sich die Regelsätze erhöhten, werde der Abstand zwischen Lohneinkommen und Arbeitslosengeld II verringert, sagte IfW-Forscher Alfred Boss. "Für ALG II- Bezieher wird es dadurch weniger attraktiv, eine reguläre Beschäftigung aufzunehmen." Es lohne sich für viele gering qualifizierte ALG II-Bezieher mit Kindern bereits heute kaum, im Niedriglohnsektor zu arbeiten.
Ganz anders die Grünen-Fraktion. Sie hat sich von ihren damaligen Beschlüssen in der rot-grünen Koalitionen weit entfernt und beschloss umgehend einen Antrag für den Bundestag, als Sofortmaßnahme den Regelsatz von 359 auf 420 Euro im Monat anzuheben: "Es ist geboten, sofort zu handeln und nicht weiterhin in Kauf zu nehmen, dass Millionen von Menschen in Deutschland unterhalb des Existenzminimums leben müssen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich