Rassismus nach dem Brexit-Referendum: „Geht doch nach Hause“
Das Votum der Briten, die EU zu verlassen, ist wie ein Fanal. Jetzt trauen sich viele, endlich zu sagen, was sie wirklich denken.
Auf der langen Ladenstraße Barkingsides, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten zweistöckigen Häuser schmiegen sich eng aneinander, gibt es Läden mit indischen Currys, koscheren Lebensmitteln, asiatische Nagellackstudios und drei osteuropäische Lebensmittelläden. In einem von ihnen sitzt – umgeben von getrocknetem Fisch, Spirituosen und Würsten, die die Luft salzig und pfeffrig machen, die Litauerin Agne Skripskaja hinter der Theke.
Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht „Back to the Moon“. Agne kam vor elf Jahren nach Großbritannien, 22 war sie da, Buchhalterin, aber ihr Zeugnis war in England unbrauchbar. „Die Leute sind besorgt“, erzählt sie in gutem Englisch. „Muss ich jetzt gehen?“, fragen vor allem die Älteren. Manche erzählen, dass ihren Kindern jetzt zugerufen werde: „Geht doch nach Hause.“ Was das soll? Wo das sein soll? „Auf dem Mond.“
Um 57 Prozent sei die Zahl rassistischer Angriffe auf Osteuropäer und Muslime innerhalb der ersten drei Tage nach dem Referendum gestiegen, hat der Rat der nationalen Polizeichefs in Großbritannien errechnet. „Die Engländer glauben, dass wir ihnen die Arbeit wegnehmen, dabei sitzen viele von ihnen den ganzen Tag bei McDonald’s rum und tun nichts“, sagt Agne. Als sie ihrer Cousine nach Großbritannien folgte, schuftete sie zunächst in einer Fabrik, dann jahrelang bei der Post, bevor sie vor zwei Jahren in dem Laden anfing.
Mutter sein, das muss doch das größte Glück sein. Dachte Karo Weber. Jetzt hat sie einen Sohn, aber nur schön ist das nicht. Warum Mütter mit ihrer Rolle auch hadern können, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 2./3 Juli. Außerdem: Brexit. Vor allem Migranten bekommen die Folgen zu spüren. Wie reagieren sie darauf? Und: Höher als Sopran. Der Countertenor Andreas Scholl über Männerbilder, das Anarchische der Barockmusik und seine Anfänge bei den „Kiedricher Chorbuben“. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Installateur mit sieben Zeugnissen
Ein Kunde, stämmig, füllig, mit vollem Einkaufskorb, mischt sich ein: „Als ich aus Litauen hierherkam, hatte ich nur eine Ausbildung. Ich verdiente ein Drittel von dem, was Engländer bekamen, und investierte trotzdem alles in meine Weiterbildung.“ Virgilijus Barkauskas heißt er und erwähnt stolz, dass er nun sieben Zeugnisse in den verschiedensten Installateurbereichen hat. „Die meisten, die mit mir in den Ausbildungen waren, waren Ausländer“, sagt er. „Ich verstehe das nicht, Engländer haben bessere Chancen, weil sie sich hier auskennen, und tun trotzdem nichts, um besser zu werden. Sie beschweren sich nur.“ Auch Agne will weiterstudieren, sich umschulen lassen auf englische Buchhaltung und sich dann selbstständig machen.
Im Weatherspoon Pub am Ende der Straße sitzen die Engländer. Ihr Thema: der Brexit und wie weit es mit „the Nation“ gekommen ist. Winston Sheehan, ein junger Sozialarbeiter, spricht über Sozialhilfeempfänger aus Osteuropa. Klar, es gebe auch genug faule Briten, aber die Einwanderung unqualifizierter Leute sei ein Problem. „Ich habe gelesen, dass in Rumänien und Bulgarien ganze Bevölkerungsgruppen verschwinden, die jetzt bei uns arbeiten und dort fehlen.“
Britische Rentnerin
Sein Trinkkumpan wägt nicht so vorsichtig ab: „Die Immigranten haben die Gastfreundschaft der Briten ausgenutzt. Wie sonst hätte es kommen können, dass man sich als Weißer in Bezirken wie Whitechapel oder Leytonstone gar nicht mehr blicken lassen kann.“ Osteuropäer seien das eine, aber sich nicht integrierende Muslime das andere.
Die Nase voll. So oder so.
Und am Nebentisch meint ein weiterer Biertrinker. „Ich bin ein englischer Mann der Arbeiterklasse“, seit 29 Jahren im selben Betrieb. Blitzableiter macht er, und, ja, sein Großvater sei Italiener gewesen, sein Onkel habe im Weltkrieg für Großbritannien gekämpft. Er betont das mehrmals, bevor seine Welterklärung Fahrt aufnimmt: Die Einwanderungswelle sei unaufhaltbar. Die Hälfte der Immigranten seien Sozialhilfeempfänger, die Politiker Versager. Er habe die Nase voll. So oder so. Er sei reif, selber zum Migranten zu werden. Australien etwa. „Auch die drei osteuropäischen Läden in der Straße sind zu viel des Guten.“
In Brent, im Norden Londons, leben noch mehr Migranten als in Barkingside. 65 Prozent, höher ist der Migrantenanteil einer Kommune in England und Wales nur noch in Newham in Ostlondon. Türkische Restaurants, indische Sarigeschäfte, englische Cafés und karibische Restaurants liegen hier nebeneinander. In einem alten Bürokomplex nahe dem Wembley-Stadion hält Elena Rees mit Angestellten und ihrem Ehemann Sam gerade eine Sitzung.
Seit einigen Jahren leitet die aus Rumänien stammende Frau eine Vermittlungsstelle für Menschen vor allem aus Osteuropa auf der Suche nach Qualifikationen in Großbritannien. Auch um Unterkunft und Finanzierung können sie und ihr Team sich kümmern. Im Brexit sieht sie vor allem: noch höhere Studiengebühren und noch mehr Einwanderungsbürokratie.
Die besten Jobs für weiße Engländer
Rees war Grundschullehrerin in Rumänien. Vor 13 Jahren verließ sie ihr Land, sie war jung, war neugierig, wollte Englisch lernen. „Der Anfang war schwer“, sagt sie. Eine Weile war sie illegal; mittlerweile hat sie die britische Staatsbürgerschaft. Trotzdem glaubt sie, dass die europäischen Einwanderungsbestimmungen zu großzügig sind und es zu einfach ist, in Großbritannien Sozialhilfe zu bekommen. „Das ist doch der Grund, weshalb viele hier die Immigranten aus Osteuropa hassen.“ Sie würde jeden, der etwas Negatives über Osteuropäer zu sagen hat, auffordern, 20 Jobs, die Einwanderer machen, mit 20 Engländern zu besetzten. „Es würde nicht klappen.“
Elenas Mann, Sohn eines ägyptischen UN-Gesandten und einer englischen Mutter, in Großbritannien geboren und aufgewachsen, sieht Parallelen zwischen dem, was er in seiner Jugend erlebte und heute. „Einerseits fragten mich viele, ob wir in einem Zelt wohnen und Kamele besitzen, andererseits war ich ein attraktiver junger Mann.“ Auch heute sei nicht alles richtig. „Ich erlebe oft, dass Firmen die besten Jobs an weiße Engländer vergeben und die schweren an Einwanderer.“ Dabei seien, meint Elena, die Einwanderer oft besser qualifiziert.
Dass es zum Brexit kam, überraschte beide. In Brent stimmten 59,7 Prozent für den EU-Verbleib. Im benachbarten Londoner Stadtviertel Camden sogar 75 Prozent.
Letzte Bastion weißer Briten
Obwohl viele Leute in Camden über das Referendum geschockt sind, geben sich Stammgäste im Sir Robert Peel Pub auf Queens Crescent in Kentish Town zufrieden. Die Kneipe am Anfang einer alten Marktstraße wirkt zusammen mit Frank’s Supermarket wie die letzte Bastion weißer Briten im Viertel.
Ihre Nachbarn sind Somalier, Türken, andere muslimische und nichtmuslimische Einwanderer, die Gemüse verkaufen, Fleisch, das halal ist, Kebab, Falafel, Fast Food, Krimskrams. Eine Sechzigjährige, sie will ihren Namen nicht nennen, ist begeistert vom Brexit. „Wenn die Immigranten endlich dahin zurückgehen, wo sie herkamen, bekomme ich mehr Rente.“
Conrad Bartell am Tisch gegenüber ist pessimistischer. Er erzählt, wie er hier aufwuchs und auf dem Markt einst Obst und Gemüse verkaufte. Die Immigranten stören ihn nicht, auch wenn die drei Moscheen in der Gegend für sich sprächen. Er wünscht sich aber mehr Respekt. Er als ältere Person müsse oft Jugendlichen aus den Weg gehen. Der Markt hier sei im Zeitalter der Supermärkte von der Verwaltung nicht genug geschützt worden.
„Für die Jüngeren, wie meine Enkel, ist die Zukunft schwer“, sagt er. “Wer studiert, kriegt keine Arbeit, wer eine Ausbildung macht, wird von billig arbeitenden Einwanderern verdrängt. Und zudem wird unsere Gegend von reichen Investoren aufgekauft.“ Conrad, der für den Brexit gestimmt hat, blickt traurig aus dem Fenster. „Früher war es einer der schönsten Märkte in London“, sagt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen