Räumung eines Obdachlosencamps: Mitte setzt auf Zucht und Ordnung
Die Stadtreinigung wirft die Habe von Obdachlosen weg, die Polizei steckt den Kopf einer Betroffenen in einen Sack: Ein Video dokumentiert den Einsatz.
Es ist ein Bild wie bei einer Entführung: Polizisten haben bei der Räumung eines Obdachlosencamps einer gefesselten Frau von hinten ein Tuch über den Kopf gezogen, es wie einen Sack zugeschnürt und sie so abgeführt. Der Vorfall ereignete sich am 9. Januar gegen 15 Uhr im Ulap-Park nahe des Hauptbahnhofs.
Unter den Bahngleisen war dort ein Lager von Obdachlosen entstanden. Das Bezirksamt Mitte erklärte, es habe ihnen die Räumung am 8. Januar angekündigt und sie aufgefordert, den Ort zu verlassen. Bis zum Einsatzbeginn am nächsten Tag seien alle Bewohner dem nachgekommen – bis auf eine Frau, gegen die ein Haftbefehl vorgelegen habe. Sie sei wegen „extrem aggressiven Verhaltens“ verhaftet worden. Bevor sie die sackartige Verhüllung übergezogen bekam, saß sie jedoch vollkommen ruhig auf einer Bank – das zeigen Videoaufnahmen.
Empfohlener externer Inhalt
Kein Platz für Obdachlose
Die Wissenschaftlerin Valeria Hänsel wurde zufällig Zeugin der Szene. Vor den Augen der Frau sei ihr Hab und Gut von der BSR in ein Müllfahrzeug geladen worden, sagt Hänsel der taz. Es sei nicht kontrolliert worden, ob sich Gegenstände wie Ausweisdokumente im Zelt befinden. „Sie saß gefesselt auf der Bank, war völlig verzweifelt.“ Dann wurde ihr der Kopf verhüllt und sie abgeführt.
„Umstehende haben die Polizisten darauf aufmerksam gemacht, dass das Vorgehen unverhältnismäßig und traumatisierend sei“, sagt Hänsel. Eine der Beamten habe dies damit begründet, dass das Polizeifahrzeug vor Dreck geschützt werden müsse, auch von Läusen sei die Rede gewesen.
„Die haben wohl nicht alle Tassen im Schrank“, sagt die Abgeordnete Gaby Gottwald (Linke). Das Vorgehen sei „absolut inakzeptabel und Besorgnis erregend. Wir werden der Sache nachgehen.“
Die Polizei kam der Bitte um Stellungnahme nicht nach. Die Stadtreinigung verwies auf das Ordnungsamt.
Der grüne Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel erklärte auf taz-Anfrage: „Das Bild von der an Armen und Beinen fixierten Frau mit dem Tuch über dem Kopf bestürzt auch mich und die Mitarbeiter_innen des Ordnungsamtes.“ Aber Fesselung und Tuch überm Kopf seien zur Eigensicherung der Polizisten notwendig gewesen.
Kurz nach der Räumung hatte Dassel den Einsatzkräften des Ordnungsamtes, der Polizei und der Stadtreinigung für ihr „umsichtiges und engagiertes Handeln zur Wiederherstellung akzeptabler Zustände auch an diesem Ort“ gedankt. Er hoffe, dass das „konsequente Handeln des Bezirksamts dazu beiträgt, dass obdachlose Menschen die vorhandenen Hilfen annehmen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
Hamas und Israel werfen sich gegenseitig vor, Gespräche zu blockieren