Radiohead-Konzert in Berlin: Eine Band fürs ganz große Wir
Denkwürdiger Abend in der Wuhlheide: Radiohead, ökologisch und politisch korrekt, herzergreifend pathetisch. Dafür rückt man im Regen gern zusammen.
Die Stimme. Immer wieder diese Stimme. Sie ist es, die bei dem langen Weg Radioheads von einer Slackerband mit ihrem Hit "Creep" bis hin zur neben U2 und Coldplay aktuell größten Band des Planeten immer gleich geblieben ist. Sie ist immer alles zusammen: quengelig, nervtötend, sanft, erhaben und wunderschön. Sie ist so polymorph wie die Band selbst, deren Markenzeichen sie ist, und sie kommt tatsächlich - der Beweis ist nun erbracht - von einem Mensch.
Von Thom Yorke, der beim Berlinkonzert von Radiohead in der ausverkauften Wuhlheide unaufhörlich darum bemüht ist, mit ihr jeden einzelnen Radioheadsong zusammenzuhalten. Ein kleines Männchen ist Thom Yorke, der da vorne unaufhörlich herumzappelt wie Rumpelstilzchen beim Einstudieren eines Ausdruckstanzes, ein unscheinbarer Typ, ein geheimnisvoller, fast schon unsichtbarer Popstar, über den man fast nichts weiß und der, man kann es dank der Splitscreen-Projektionen über der Bühne deutlich sehen, die letzten drei Tage vergessen zu haben scheint sich zu rasieren. Sympathisch. Der elektrische Rasierer blieb aus, vielleicht auch wegen der Energiekrise.
Das politische Bewusstsein ist Radiohead ja geblieben, zumindest rudimentär. Man merkt es bereits am Merchandising-Stand, wo kein Band-T-Shirt beworben wird ohne den Extrahinweis, dass hier jedes Produkt garantiert nicht in Ausbeutungsverhältnissen entstanden ist. Doch seit Radiohead vor allem mit ihren Ausflügen in die elektronische Musik und ihrer innovativen Veröffentlichungspraxis im Internet heftig ins Gerede gekommen sind, wurde das Regenwaldretter-Image, das Yorke einmal anhaftete, stark in den Hintergrund gedrängt. Das Widerständige, das Pop braucht, um relevant zu sein, findet sich bei Radiohead nicht in Behauptungen, sondern ganz in der Musik und in der Haltung zur Musik.
Die Musik. Sie ist ganz wunderbar an diesem Abend. Da vorne stehen Radiohead, sie behaupten es nicht bloß wie viele Rockbands, die versprechen, sie selbst zu sein, und dann in einem Klangsumpf untergehen. Nein, Radiohead sind ganz Radiohead, also voller Pathos und fähig, einen Livesound zu erzeugen, der für Stadienverhältnisse wie die einer Freiluftbühne nur traumhaft genannt werden kann. Allerdings wenden Radiohead dazu einen Trick an: Sie bedienen sich nicht nur der Elektronik, sie gehen ganz in ihr auf. Die Band wird eher zum Anhängsel der Elektronik und nicht umgekehrt und nähert sich dem Sounddesign von Raveacts wie den Chemical Brothers oder Underworld an, bei denen Musiker aus Fleisch und Blut an ihren Instrumenten auch nur noch ein wenig pling-pling machen müssen, und trotzdem klingt alles wie aus einem Guss. Gitarren oder Schlagzeug sollen ja seit den Radiohead-Platten "Kid A" und "Amnesiac" nicht mehr als solche identifizierbar sein, nicht "handgemacht" klingen, sondern nur noch Teil eines synthetischen Ganzen sein. In der Live-Umsetzung zahlt sich dieser Paradigmenwechsel im Radioheadschen Schaffen nun aus. Man merkt das, wenn die Gitarre dann doch mal quietscht - das klingt dann ziemlich gestrig nach den Neunzigern, dabei sind Radiohead doch eine Band im Hier und Jetzt.
Natürlich trägt zum Gelingen dieses Radiohead-Konzerts auch das ganze Setting bei, die romantisch gelegene Wuhlheide und die Regenschauer, die das Publikum immer wieder unter den mitgebrachten Regenschirmen zusammenrücken lässt und unter denen sich Pärchen noch enger aneinanderschmiegen als sowieso schon. Das entscheidende Kennzeichen von Radiohead sei das Betonen eines Wir-Gefühls, behauptet der amerikanische Intellektuelle Mark Greif in einem Essay in der amerikanischen Zeitschrift n+1. "We ride", singt Thom Yorke, "we awake", "we escape", "were damaged goods" und so weiter. Und wir alle sind hier nun auch gemeinsam draußen in der Natur beim Regen. Wir samt dieser Stimme.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!