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„Radbahn“-Testfeld in Kreuzberg eröffnetVision mit Spatzenhaus

Nach Jahren des Planens hat das „Reallabor Radbahn“ ein sogenanntes Testfeld eingeweiht. Es zeigt die Chancen und Grenzen von Mobilitätsideen.

Wo Visionen ein bisschen wahr werden: das „Radbahn“-Testfeld in Kreuzberg Foto: IMAGO / Jürgen Held

Berlin taz | Im Anfang war die Vision: Radfahren quer durch Kreuzberg, sicher und vor Regen geschützt, auf der bislang von Autos zugeparkten Fläche unter der Hochbahn zwischen Gleisdreieck und Schlesischem Tor. Eine radikal einfache Idee, auf die nur erst mal jemand kommen musste. Das Projekt „Radbahn“ war geboren und bald in aller Munde.

Knapp zehn Jahre später drängen sich an diesem Donnerstag Pulks von KreuzbergerInnen mit Kind, Kegel und Lastenrad unter den stählernen Stützen des Viadukts. Was sie bewundern dürfen, hat mit der Ursprungsvision nicht mehr viel zu tun. Oder noch nicht? Fakt ist: Das „Testfeld“ des „Reallabors Radbahn“ zwischen Mariannen- und Oranienstraße ist keine 200 Meter lang, dafür aber ein dicht bepackter Parcours aus ökologischen Wohlfühl-Angeboten.

Beim Abschreiten der Strecke sucht man instinktiv nach einem Bällebad: Das gibt es natürlich nicht, dafür laden am Rande neben schilfbepflanzten Wasserreinigungstanks und einer Installation aus Spatzenhäusern und Insektenhotels mehrere Aufenthaltsflächen mit Steckdosen und W-Lan zur Entspannung ein – wohlgemerkt, zwischen zwei Fahrbahnen mit dichtem Autoverkehr, während über den Köpfen die U-Bahnzüge entlangdonnern.

Da gibt es schick designte Bänke und ein Röhren-Telefon für die Kleinen, aber auch eine Reparaturstation mit einem blauen Automaten, aus dem man für neun Euro statt Zigaretten einen frischen Fahrradschlauch ziehen kann. Große, in einen wurffreundlichen Winkel gekippte Mülleimer sind wie gemacht fürs Velo-Multitasking: Wer beim Fahren eine Banane isst oder Zeitung liest, kann die Reste hier versenken, ohne anhalten zu müssen.

Schotter und Kännchen

Die Ränder zur Straße hin wurden aufwendig entsiegelt und mit pflegeleichten Stauden besetzt. Die Oberfläche rund um die Jungpflanzen ist mit hellgrauem Schotter bedeckt, der allerdings nur als Mulchschicht dient und kaum noch sichtbar sein soll, wenn das Grün einmal gewachsen ist. Weil unter dem Viadukt wenig Regen ankommt, soll mit den besagten Tanks versucht werden, das kontaminierte Wasser aufzubereiten, das von den Hochbahngleisen abgeleitet wird. Für die Kinder stehen am Donnerstag aber auch bunte Gießkännchen bereit.

Schon klar – das aus dem mit rund drei Millionen Euro von Bund und Land gefüllten Fördertopf finanzierte „Testfeld“ soll ja nur in komprimierter Form zeigen, was alles so machbar wäre, wenn der Senat irgendwann mal tief in die Tasche griffe und die Radbahn Wirklichkeit würde. Für RadlerInnen hat es aktuell keinen realen Nutzen.

Und ein Besuch verdeutlicht nur das Grundproblem des Projekts: Die politischen Ansprüche der Verkehrswende haben die Radbahn-Vision irgendwann in den vergangenen zehn Jahren überholt. Die je 1,30 Meter breiten Spuren, die hier zwischen die Pfeiler des Testfelds passen, erfüllen nicht die Standards des Berliner Mobilitätsgesetzes, an sicheres Überholen ist hier schon mal gar nicht zu denken.

Tatsächlich hatte eine noch unter der grünen Verkehrssenatorin Bettina Jarasch durchgeführte Machbarkeitsstudie den engen Rahmen des Viadukts längst gesprengt und eine Variante ins Spiel gebracht, bei der die ganze nördliche Fahrbahn der Skalitzer und Gitschiner Straße zu einer kombinierten Rad-, Flanier- und Lieferzone würde – unter der Hochbahn könnte man dann immerhin noch sitzen oder spazieren.

Davon, dass sich diese weiterentwickelte Vision irgendwann materialisiert, ist angesichts der aktuellen politischen Verhältnisse nicht auszugehen. Den vom Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksamt weitergedrehten Plan einer Flaniermeile auf dem Halleschen Ufer hatte Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) im vergangenen Herbst schließlich auch schon abgewürgt.

Einfach mal ausprobieren

Aber vielleicht brauchen Visionen eben viel Zeit. Als am Donnerstag der Architekt und Reallabor-Geschäftsführer Matthias Heskamp – laut Website „konzeptionelles Mastermind und Visionär“ des Projekts – auf eine Bank steigt, um eine flammende Willkommensrede zu halten, spricht er von den vielen Bedenken, die dem Projekt immer wieder entgegengeschlagen seien. „Wir probieren es jetzt einfach aus“, ruft er in die Menge. „Wenn es klappt, machen wir weiter, und was nicht funktioniert, räumen wir eben wieder ab.“

Die kommenden Monate werden, so oder so, zur Bewährungsprobe. Unter anderem für die Taubengitter, die oben unterm Gleisbett eingebracht wurden. An manchen Stellen haben die findigen Vögel schon Schlupflöcher entdeckt: Man sieht’s an den säuberlich abgegrenzten Kackflecken auf dem frischen Radwegbelag.

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1 Kommentar

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  • ham nu tatsächlich die 200 Meterchens inclusive bedeutungsschweren Vorher-und-voraus-Denkens 3,3 Millionen gekostet ????????? Das wär ja zum Fremdschämen. Da wird Verkehrspolitik nicht sinnstiftend vermittelt, sondern is schlicht verraten und verkauft.