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REISE NACH PERU

■ Virginia Woolf wollte ihre Biographie schreiben. Peruanische Feministinnen schrieben ihren Namen an Hauswände und Mauern. Eine Reisebeschreibung

Virginia Woolf wollte ihre

Biographie schreiben. Peruanische Feministinnen schrieben ihren

Namen an Hauswände und Mauern.

Eine Reisebeschreibung

VONFLORATRISTAN

Wer ist Flora Tristan? Sie wurde 1803 in Paris geboren. Ihre Mutter war Französin, ihr Vater ein spanischer Oberst aus angesehenem peruanischem Hause. Nach dem frühen Tod des Vaters wird sie Gehilfin des Malers André Fran¿ois Chazal, den sie später heiratet. Sie haben drei Kinder zusammen. Nach vier Jahren trennt sie sich von ihm. 1832 entschließt sie sich zu einer Schiffsreise nach Peru. Dort versucht sie das Erbe ihres Vaters zu erstreiten. Der Bericht über diese Reise erscheint 1838 unter dem pathetisch-romantischen Titel „Pérégrinations d'un paria“ (1833-1834) in zwei Bänden. Das Werk ist unter anderem die Leidensgeschichte einer Ehetragödie, ganz besonders aber der Entwicklungsbericht einer persönlichen Selbstfindung — hin zum politischen Handeln. 1838 versucht ihr Ex-Ehemann ein Attentat auf sie und wird zur Deportation und Zwangsarbeit verurteilt. Im Umkreis der sozialhumanistischen Bewegung Fouriers und der Romane der George Sand widmet sich Flora Tristan in den folgenden Jahren selbstbewußt und energisch den Fragen der Selbstbestimmung der Frau, der Befreiung aus Sklaverei, der Abschaffung der Todesstrafe und anderen sozialpolitischen Themen. Schon bald wird sie hoffähig in feministischen Zirkeln wie der Revue de Paris und den Gazetten des Femmes. Sie entwickelt das Konzept einer einheitlichen Arbeiterbewegung, der Union Ouvrière, und stirbt auf einer Vortragsreise über dieses Thema 1844 in Bordeaux.

Zur Einführung in ihr Werk Auszüge der „Reise nach Peru“, aus dem Kapitel über Lima im Jahre 1830, wo sie das Leben der Frauen dort schildert. Das Buch erschien im Sozietäts-Verlag Frankfurt und wurde von Friedrich Wolf Zettel übersetzt, herausgegeben und eingeleitet.

...Es gibt keinen Ort auf der Erde, wo die Frauen freier wären und größere Macht hätten als in Lima. Sie herrschen da ohne Einschränkung; überall geht von ihnen die Initiative aus. Man könnte meinen, daß die Limanerinnen für sich allein den schwachen Anteil Energie verbrauchen, den dieses heiße, betäubende Klima für seine Bewohner übrigläßt. In Lima sind die Frauen im allgemeinen größer und kräftiger als die Männer. Schon mit elf bis zwölf Jahren sind sie voll ausgebildet; fast alle verheiraten sich in diesem Alter und sind sehr fruchtbar. Gewöhnlich haben sie sechs bis sieben Kinder. Die Schwangerschaft ist bei ihnen schön, die Geburt leicht, und danach haben sie sich rasch wieder erholt...

Einzigartig ist ihre Art, sich zu kleiden. Lima ist die einzige Stadt der Welt, wo diese Kleidung je aufgetaucht ist. Vergeblich hat man in den ältesten Chroniken nach deren Ursprung geforscht; man hat ihn nicht entdecken können. Sie ähnelt in nichts den verschiedenen spanischen Trachten, und es ist ganz sicher, daß sie nicht aus Spanien eingeführt worden ist. Bei der Entdeckung Perus fand man sie bereits an Ort und Stelle vor, während sie andererseits bekanntlich in keiner anderen Stadt Amerikas je getragen wurde. Diese Kleidung, die man saya nennt, besteht aus einem Rock und einer Art Sack, der über Schultern, Arme und Kopf geworfen wird und manto heißt. Ich höre schon, wie sich unsere eleganten Pariserinnen über die Schlichtheit dieser Kleidung mokieren; sie haben nämlich keine Ahnung, was eine kokette Frau alles daraus machen kann...

Eine Limanerin im saya-Rock oder in einem hübschen Pariser Kleid — das ist nicht mehr dieselbe Frau; vergeblich sucht man unter der Pariser Mode nach der verführerischen Frau, der man noch am Morgen in der Kirche Santa Maria begegnet ist. Daher gehen in Lima auch alle Fremden in die Kirche, nicht um die Mönche die Messe singen zu hören, sondern um diese einzigartigen Frauen in ihrer Nationaltracht zu bewundern. An ihnen ist in der Tat alles anziehend; ihre Posen sind ebenso reizvoll wie ihr Gang, und wenn sie knien, so beugen sie schalkhaft den Kopf nach vorne, lassen ihre hübschen Arme voller Armreife sehen, ihre kleinen, von Ringen glitzernden Hände gleiten mit wollüstiger Behendigkeit einen dicken Rosenkranz entlang, während ihre verstohlenen Blicke das Entzücken des Betrachters bis zur Ekstase steigern...

Indessen beherrschen die Frauen von Lima die Männer, weil sie ihnen an Verstand und seelischer Kraft überlegen sind. Dieses Volk befindet sich in einem kulturellen Stadium, das noch recht weit von dem unsrigen in Europa entfernt ist. Es gibt in Peru keine Erziehungseinrichtung für das eine oder für das andere Geschlecht. Der Verstand entfaltet sich hier lediglich aus seinen natürlichen Kräften heraus. Die Überlegenheit der Frauen Limas über das andere Geschlecht — wie unterlegen in sittlicher Hinsicht sie auch immer den europäischen Frauen sein mögen — ist mithin der überlegenen Intelligenz zuzuschreiben, mit der sie von Gott bedacht worden sind.

Man darf jedoch nicht vergessen, wie vorteilhaft ihre Tracht für die Limanerinnen ist und wie sehr sie ihnen dabei hilft, durch ihre Intelligenz die große Freiheit und den beherrschenden Einfluß zu erringen, die sie haben. Sollten sie je diese Kleidung aufgeben, ohne zugleich auch ihre Sitten zu ändern und die Mittel zur Verführung, die ihnen diese Verkleidung liefert, durch neue Talente und Tugenden mit dem Ziel des Glücks und der Vervollkommnung der anderen zu ersetzen, Tugenden, deren Notwendigkeit sie bisher nicht empfunden hätten, so kann man ohne zu zögern voraussehen, daß sie auf der Stelle ihre gesamte Macht verlieren, ja, daß sie sogar sehr tief stürzen würden und so unglücklich wären, wie es menschliche Wesen nur sein können. Sie könnten sich nämlich nicht mehr diesem dauernden Spiel hingeben, das durch ihr Inkognito begünstigt wird, und wären hilflos gegen die Langeweile und unfähig, den Mangel an Achtung auszugleichen, den man im allgemeinen den Menschen entgegenbringt, die nur sinnlichen Vergnügungen zugänglich sind.

Als Beweis für das Gesagte will ich eine kurze Skizze der gesellschaftlichen Gepflogenheiten in Lima zeichnen, an der man die Richtigkeit meiner Beobachtungen ermessen mag.

Die saya ist, wie ich schon sagte, die Nationaltracht, die alle Frauen, gleich welcher gesellschaftlichen Stufe, tragen, die geachtet wird und ein Teil der Landessitten ist wie im Orient der Schleier der Muselmanin. Jahraus, jahrein gehen die Limanerinnen so verkleidet aus, und wenn es jemand wagen sollte, einer Frau in der saya den manto zu lüpfen, der mit Ausnahme eines Auges ihr Gesicht vollständig verbirgt, würde er von öffentlicher Empörung verfolgt und streng bestraft werden. Es ist selbstverständlich, daß jede Frau allein ausgehen kann; bei den meisten geht eine Negerin hinterher, doch ist dies nicht verpflichtend. Diese Tracht verändert die Person und sogar die Stimme, die, da der Mund bedeckt ist, fremd klingt, so vollständig, daß man sie unmöglich erkennen kann, falls sie nicht irgendein auffälliges Merkmal an sich hat, besonders groß oder klein, hinkt oder bucklig ist. Ich glaube, man braucht keine besondere Einbildungskraft, um zu verstehen, welche Folgen sich aus diesem dauernden Verkleidungszustand ergeben, der durch die Zeit und die Sitten eingeführt ist und der von den Gesetzen bestätigt oder zumindest geduldet wird. Eine Limanerin frühstückt morgens mit ihrem Ehemann im französischen Morgenrock und mit hochgesteckten Haaren genauso wie unsere Pariser Damen; wenn sie Lust hat auszugehen, streift sie ihre saya ohne Mieder über (der Gürtel gibt der Taille genügend Halt), läßt die Haare frei fallen, se tapa, das heißt versteckt das Gesicht im manto und geht, wohin sie will...; sie trifft ihren Mann auf der Straße, ohne daß dieser sie erkennt, macht ihm verliebte Zeichen, fordert ihn mit Worten heraus, läßt sich in ein Gespräch mit ihm ein, wird von ihm zu Eis, Früchten und Kuchen eingeladen, gibt ihm ein Rendezvous, verläßt ihn und fängt alsbald eine andere Unterhaltung mit einem vorbeigehenden Offizier an — dieses neue Abenteuer kann sie so weit treiben, wie sie will, ohne ihren manto dabei je zu lüften; sie geht ihre Freundinnen besuchen, macht noch einen Spaziergang und kehrt zum Abendessen nach Hause zurück. Ihr Mann erkundigt sich nicht danach, wo sie war, denn er weiß genau, daß sie lügen wird, wenn sie einen Grund hat, ihm die Wahrheit zu verschweigen, und da er sie nicht daran hindern kann, wählt er den klügsten Weg und regt sich nicht darüber auf. So gehen die Frauen alleine ins Theater, zum Stierkampf, in die öffentlichen Versammlungen, auf Bälle, Spaziergänge, in die Kirche und auf Besuch und sind überall gerne gesehen. Wenn sie jemanden treffen, mit dem sie plaudern möchten, sprechen sie mit ihm und verlassen ihn wieder und bleiben frei und unabhängig inmitten der Menschenmenge, viel mehr als die Männer, die ihr Gesicht nicht verdecken können. Diese Kleidung hat den riesigen Vorteil, zugleich sparsam, sehr sauber, bequem und immer sofort bereit zu sein, ohne der geringsten Pflege zu bedürfen...

Nach dem, was ich über Kleidung und Sitten der Limanerinnen geschrieben habe, kann man sich leicht vorstellen, daß sie eine ganz andere Denkweise als die Europäerinnen haben, die seit ihrer Kindheit durch Gesetze, Sitten, Gebräuche, Vorurteile, Moden, kurz: durch alles versklavt werden, während die Limanerin unter ihrer saya frei ist, ihre Unabhängigkeit genießt und voll Selbstvertrauen in jener echten Kraft ruht, über die jedes Lebewesen verfügt, wenn es nach seinen inneren Bedürfnissen handeln kann. Die Frau von Lima ist in allen Lebenslagen immer sie selbst; nie ist sie irgendeinem Zwang unterworfen: Als junges Mädchen entgeht sie der Herrschaft ihrer Eltern durch die Freiheit, die ihr ihre Kleidung beschert; wenn sie sich verheiratet, nimmt sie nicht den Namen ihres Mannes an, sondern behält den ihren und bleibt bei sich zu Hause stets die Herrin; langweilt sie der Haushalt zu sehr, so legt sie die saya an und geht einfach aus, wie die Männer es tun, wenn sie ihren Hut nehmen. In allem handeln sie mit der gleichen Unabhängigkeit. In ihren intimen Beziehungen, die sie — ob leicht, ob ernst — eingehen, bewahren die Limanerinnen immer Würde, obwohl ihr Verhalten in dieser Hinsicht natürlich anders als das unsere ist...

Die Damen von Lima kümmern sich wenig um den Haushalt; aber da sie sehr tüchtig sind, genügt das bißchen Zeit, das sie ihm widmen, um ihn in Ordnung zu halten. Sie haben einen ausgesprochenen Hang zur Politik und zur Intrige. Es ist ihre Sorge, daß ihre Männer, Söhne und alle Männer, die sie interessieren, eine gute Stellung bekommen; und um dieses Ziel zu erreichen, schrecken sie vor keinem Hindernis und vor keiner Widerwärtigkeit zurück. Die Männer mischen sich in solche Angelegenheiten nicht ein, und sie tun gut daran, denn sie würden sich nicht mit der gleichen Geschicklichkeit aus der Klemme ziehen. Diese Frauen lieben Vergnügungen, Feste und Gesellschaften, wo sie beim Spiel den großen Einsatz wagen; sie rauchen Zigarren und reiten, doch nicht auf englische Art, sondern mit Hosen wie die Männer. Sie haben eine Leidenschaft für das Baden im Meer und schwimmen sehr gut. Was die musischen Fähigkeiten betrifft, so zupfen sie ein wenig die Gitarre, singen ziemlich schlecht (obwohl einige von ihnen auch sehr musikalisch sind) und tanzen mit unbeschreiblichem Zauber die Tänze ihres Landes.

Die Limanerinnen haben im allgemeinen keinerlei Schulbildung genossen, lesen nicht und bleiben gegenüber allem, was in der Welt vorgeht, unbeteiligt. Sie besitzen viel natürlichen Witz, leichte Auffassungsgabe, ein gutes Gedächtnis und einen erstaunlichen Verstand.

Ich habe die Frauen von Lima so geschildert, wie sie sind, und nicht, wie manche Reisende sie beschreiben. Natürlich hat mich das ein wenig Überwindung gekostet, denn die nette und gastfreundliche Art, mit der sich mich aufgenommen haben, erfüllt mich mit lebhafter Dankbarkeit; doch als gewissenhafte Reisende empfand ich es als meine Pflicht, die ganze Wahrheit zu sagen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Societäts-Verlags

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