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REISE IN EIN ERTRUNKENES LAND

■ Unter den Wassermassen des gestauten Nils bei Assuan liegt Nubien

Unter den Wassermassen des gestauten Nils bei Assuan liegt Nubien

VONTHOMASKERNERT

Wenn man mit der Abendmaschine der Egypt Air von Assuan nach Abu Simbel fliegt, kann man das faszinierende Ausmaß einer Katastrophe überblicken: ein sich gedärmartig krümmendes, nach den Seiten hin blattförmig auswucherndes Silberband, umgeben von kahlen Ufern und dem staubgelben Nichts der Libyschen Wüste. Dieses unwirkliche, menschenfeindliche Ornament aus Wasser und Sand ist alles, was im Süden Ägyptens vom einstigen Wawat- Distrikt der nubischen Vizekönige, vom Zwölfmeilenland der Isis von Philä, vom Königreich Nobatia übriggeblieben ist.

Alles fließt, heißt es. Für die Mutter aller Flüsse, den Nil, stimmt dies jedoch nur zum Teil. In Assuan, am ersten Nil-Katarakt, dort, wo vor langer Zeit die Quellen des Nils vermutet wurden und der widderköpfige Schöpfergott Chnum auf einer Töpferscheibe den Menschen geformt haben soll, verhindert seit nunmehr über einem Vierteljahrhundert ein gewaltiger Riegel das ungehinderte Fließen des längsten Flusses der Erde. Über 500 Kilometer, bis tief in den Sudan hinein, stauen sich die Wassermassen des sogenannten „Nasser-Sees“. Seine 157 Milliarden Kubikmeter Wasser bilden den flüssigen Sarg des ehemaligen ägyptischen Nubien.

Dem modernen Ägypten-Reisenden stehen angesichts dieser ungünstigen Sachlage nur begrenzt Mittel und Wege zur Verfügung, will er partout etwas über dieses Nubien jenseits des ersten Katarakts erfahren. Sicherlich, Tempel wurden mit viel Fleiß und in stattlicher Anzahl an neue Orte versetzt, Philae, Kalbsha, Amada, Sebua. Darüber hinaus kann man für besagte Abendmaschine buchen und sich den des Nachts recht eindrucksvoll illuminierten Ramses- Tempel in Abu Simbel, direkt am Ufer des Nasser-Sees, zu Gemüte führen. Aber das in einer Unesco- Aktion vor fast 30 Jahren so spektakulär vor der Sintflut gerettete Bauwerk ist zum einen nur die großformatige Hinterlassenschaft eines ehemaligen Besatzers von Nubien, zum anderen aus Stein, und der ist bekanntlich stumm, auch wenn ihn noch so viele Touristenblicke tagein, tagaus fragend anstarren. Das einzige, was ich von meinem Ausflug an die sudanesische Grenze mitbrachte, war denn auch ungestillte Neugierde. Doch an den Ufern des Nasser-Sees herrscht Totenstille.

Nubier wurden zu Zimmermädchen und Kellnern

Ganz anders an den Vormittagen auf dem Treppenflur meines Hotels in Assuan: Da tippelte und trippelte, gickelte und gackelte es, daß es eine wahre Freude war: Nubierinnen! Von den Ufern des Nils, wo die Nubier jahrhundertelang ihre Häuser und Gärten gehegt und gepflegt hatten, hat sie die Sintflut des Sadd-el- Ali-Staudamms in die Korridore der Touristenhotels gespült, wo sie nun als Zimmermädchen fremde Betten aufschütteln und fremde Bäder reinigen. Ihre Väter, Brüder und Ehemänner arbeiten währenddessen als Liftboys oder Kellner, als Taxifahrer oder kleine Beamte auf den Korridoren irgendwelcher Ämter. Dennoch traf ich fast nur unerschütterlich heitere Mienen an. Nubier lächeln. Ihre gute Laune scheint unbegrenzt haltbar. Aufgeweckt vom Lachen der Hotelangestellten, versuchte ich mir eines Morgens auszumalen, was wohl passieren würde, wenn z.B. die Niederländer plötzlich den Rhein hinter Emmerich stauten und uns Deutschen dadurch auch nur ein Quadratmeter unseres kostbaren Deutschland verlorenginge. Das eine dürfte gewiß sein: Durch lautes Lachen würde niemand gestört werden!

Assuan selbst ist langweilig; genau das Richtige, um abwechselnd in die dunkelhäutigen Gesichter der Hotelbediensteten und in ein paar alte Bücher zu schauen. Neben den rund 100.000 deportierten Menschen besteht das ehemalige, ägyptische Nubien nämlich fast nur noch aus Papier und Druckerschwärze. Und so vertraue ich mich drei Herren an, welche im vorigen Jahrhundert von Assuan aus Richtung Süden durch das damals noch nicht überflutete, ägyptische Nubien in den Sudan gereist waren: Johann Ludwig Becker, einem Schweizer Forschungsreisenden, Herrmann Fürst von Pückler-Muskau, einem deutschen Dandy, und Gustave Flaubert, einem rebellischen Pariser Bürgersöhnchen. Überraschenderweise schildern alle drei Nubien als ein vom mediterranen Ägypten recht unterschiedliches Land. Nicht der ins Mittelmeer mündende, sondern der aus den Tiefen Afrikas entspringende Nil, der afrikanische Nil, prägte ihren Berichten zufolge die Atmosphäre des unteren Nubien.

Informationen aus zweiter Hand haben jedoch bisweilen einen fatalen Effekt: Sie befriedigen Neugierde nicht, sondern stacheln sie nur noch an. So mache ich mich auf den Weg ins nahe Neu-Nubien, in der diffusen Hoffnung, dort wenigstens schattenhaft auf Reste jenes versunkenen Afrikas meiner Lektüre zu stoßen. Neu-Nubien erstreckt sich in einem 66 Kilometer langen Halbkreis um Kom Ombo, nördlich von Assuan, und besteht insgesamt aus 33 Neudörfern. Die Hauptstadt bzw. das Hauptdorf von Neu-Nubien heißt sinnigerweise, analog zum „Nasser- See“, „Nasser City“. Mehr zufällig denn planmäßig lande ich in einem dieser Neudörfer mit Namen Daressalam, und ich bereue meinen Entschluß bitterlich: Schnurgerade Straßen, in denen die Hitze flirrt, ziehen sich durch schachbrettartig angelegte, einstöckige Häuserblocks, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen— eine an bürokratischen Reißbrettern entworfene, völlig gesichts- und geschichtslose Wirklichkeit, die eine über Jahrtausende an den Flußufern des von ihr vergöttlichten Nils lebende Bevölkerung ins staubige, gottlose Hinterland verbannte. Statt einen Blick auf den Nil nur noch der Blick auf die Bahngleise der Strecke Kairo-Assuan. Von Afrika keine Spur.

Geschichtslose Wirklichkeit in Nasser City

Am Abend desselben Tages erzähle ich Said, dem nubischen Liftboy, von meinem mißglückten Besuch. Said lächelt nur und schlägt mir für den nächsten Nachmittag eine Segelpartie auf der Feluke seines Bruders Abdul zu den Inseln im Katarakt, diesseits des Hochdammes, vor.

Gesagt, getan: Langsam verschwindet die Silhouette von Assuan hinter einer Flußbiegung. Die Ufer wachsen an, die Strömung wird stärker, unterbrochen von zahlreichen Strudeln. Auf den glattpolierten Granitfelsen sitzen Ibisse und blicken gelangweilt herüber. Durchs Schilfgras säuselt der Wind. Die Landschaft hat einen archaischen Charakter.

An einer der Inseln mit Namen Sehel machte die Feluke halt. Mit dem Finger deutet Abdul die langgezogene Böschung hinauf. Neugierig folge ich ihm. An die Rückseite der Böschung schmiegt sich in eine Mulde ein labyrinthartiges Dorf mit ineinandergeschachtelten, zu gut einem Drittel verfallenen Häusern und Innenhöfen. Zwischen den unverputzten Lehmziegelwänden schlängeln sich von der Nachmittagssonne violett gefärbte Gassen. Vor den Eingängen sitzen Gruppen schwarz gekleideter Nubierinnen. Manche haben Goldfäden in ihr Kopftuch gewirkt, was ihnen inmitten all der Erdfarben ein höchst kostbares Aussehen verleiht. Ziegen streunen umher. Ein Kind winkt von einer Mauer herab. Das Zentrum des Dorfes bildet ein weiter Sandplatz, und dahinter liegen kleine von Mauern eingefaßte Gärten.

Ein déjà vu, zumindest was die Stimmung anbelangt. Automatisch muß ich an Flauberts Beschreibung seiner Ankunft in der ehemaligen Hauptstadt des unteren Nubien, in El-Derr, denken: „Ein Strand — Aufstieg — Große, breitgefächerte Sykomore [...] Die Straßen sind breit, ziemlich hohe, graue Mauern umgeben Gärten voller Palmen, deren Wedel herunterhängen; alles ist still, die Luft warm. Nubier gehen in langen, weißen Hemden vorüber. An einer Mauerecke sitzt eine Gruppe und raucht.“

Während immer mehr Kinder unseren Schritten folgen, erzählt Abdul, daß Sehel die einzige von Nubiern bewohnte Kataraktinsel südlich von Assuan sei, daß das Dorf rund 600 Einwohner habe und das älteste der ganzen Umgebung sei. Alle anderen Nubierdörfer um den Katarakt seien erst nach 1902 entstanden, als die Engländer kurz hinter Sehel einen ersten Staudamm erbaut und bereits damals viele alte Nubierdörfer flußaufwärts unter Wasser gesetzt hätten. Touristen kämen eher selten hierher. Es dauere wohl noch ein Weilchen, bis sie begriffen hätten, daß Ägypten nicht nur aus Tempeln und Steinreliefs besteht. Und wenn sie's dann begriffen haben, wer weiß, dann steht auf Sehel vielleicht ebenfalls nur noch ein großes Hotel, so wie auf der Nachbarinsel flußabwärts.

Rückkehr aus einer vergangenen, untergegangen Welt

Abdul lädt mich zum Tee. Die ganze Familie sitzt um dampfende Tassen. Der Großvater, dessen Gesicht ganz aus waagrechten Linien zusammengesetzt ist, erzählt von damals, als Sehel noch großflächig mit Gärten überzogen war. Doch dann sei der Sadd el-Ali, der Hochdamm des Präsidenten Nasser, gekommen und habe den widderköpfigen Gott vertrieben: Während im Süden alle Nubierdörfer Ägyptens für immer in den angestauten Fluten untergingen, trocknete Sehel langsam aus. „In unseren Gärten waren wir noch Nubier. Unsere Enkelinnen und Enkel jedoch sind nun Taxifahrer und Zimmermädchen in den großen Hotels. Gut, wir haben jetzt Elektrizität und vier Telefone auf Sehel, aber unsere Erde haben wir nicht mehr“, resümiert der Großvater die Lage. Ein großer Teil der einstigen Bevölkerung arbeitet in Assuan, Kairo oder in den Golfstaaten.

Beim Rückweg zur Feluke fällt mir auf, wie still es in Sehel ist. Ein sonderbares Gefühl krabbelt mir den Rücken hinunter. Liegt es an dieser Stille? Oder aber am melancholischen Licht der heraufziehenden Dämmerung, die den Mauern und Vorsprüngen überall dunkle Schatten anheftet? Jedenfalls fühle ich mich plötzlich in einer Geisterstadt... Und als ich dann lange nach Sonnenuntergang wieder die Geräusche von Assuan vernehme, kommt mir diese Bootsfahrt vor wie die Rückkehr aus einer längst vergangenen Welt.

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