REFERENDUM ÜBER DIE EU-GRUNDRECHTE-CHARTA GEFORDERT: Symbolische Volksabstimmungen
Heute sagt man nicht mehr: „Dieses Thema ist wichtig“, sondern: „Dieses Thema ist so wichtig, dass es eine Volksabstimmung geben sollte.“ Die Äußerung ist zwar regelmäßig folgenlos, weil das deutsche Recht bisher kaum Volksentscheide vorsieht. Aber Aufmerksamkeit ist sicher. Auch bei der jüngst fertig gestellten Europäischen Grundrechte-Charta wurde hierzulande so verfahren.
Allerdings werden die Staats- und Regierungschefs der EU am Wochenende entscheiden, dass die Grundrechte-Charta erst einmal nur „feierlich proklamiert“ und nicht in die EU-Verträge aufgenommen wird. Soll aber die Bevölkerung über einen unverbindlichen Rechtsakt abstimmen? Sinnvoll ist die Debatte allenfalls, wenn man über ein Referendum in einiger Zukunft spricht. Bis dahin sind vielleicht auch EU-skeptische Staaten wie Großbritannien bereit, die Charta in die Verträge aufzunehmen. Allerdings sollte auch dann der Eindruck vermieden werden, mit der ausdrücklichen Grundrechtsgarantie würde sich die Position der BürgerInnen in Europa fundamental verändern. Schon bisher war die EU kein grundrechtsfreier Raum. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seiner Rechtsprechung europäische Grundrechte entwickelt und beachtet. Die Charta soll sie nun für alle sichtbar machen.
Braucht diese Klarstellung ein Plebiszit? Soweit die Charta eine umfassende Werteordnung beschreibt, geht sie zwar über die EuGH-Rechtsprechung hinaus. In Bereichen wie Strafrecht, Bildung oder Wohnungsversorgung hat die EU aber auch keine Kompetenzen. Somit hat die Charta hier auch nur eine symbolische, vor allem außenpolitisch motivierte Funktion.
Die derzeit diskutierte Volksabstimmung wäre ein typisches Referendum von oben. Die Regierenden haben ein Symbol geschaffen und geben dem Volk Gelegenheit zur Dankbarkeit. So wird direkte Demokratie nicht ernst genommen. Statt symbolische Debatten um symbolische Referenden zu führen, sollten endlich Plebiszite von unten zugelassen werden. Auch wenn dann über unbequemere Fragen abgestimmt werden muss. CHRISTIAN RATH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen