■ Querspalte: Die Bronx in Berlin
Der Spiegel hat ein Problem. Irgend jemand muß vor kurzem eine kühne These über den Redaktionstisch geschleudert haben: Die deutschen Städte brodeln US-Verhältnissen entgegen. Nun müsse etwas geschehen. Publizistisch, politisch, am besten beides. Also machten sich die Redakteure auf die Suche. Hamburg, Berlin, Frankfurt – schnell waren die deutschen New Yorks ausgemacht. Aber die Sucht war noch nicht gestillt. Irgendwo mußte es doch sein, das Mega-New-York, die Bronx aller Bronxe, das Sarajevo auf heimischem Boden.
Seit gestern weiß Deutschland: Berlin-Neukölln ist „Endstation“ (Titel). Sechs Spiegel-Seiten Verwesung, Verarmung, Verslumung. Sechs Seiten Grauen. Sechs Seiten knallhart recherchierter Journalismus, der in ebenso knallharten Sätzen mündet: In Neukölln „peitschen“ Schüsse durch die Nächte (O-Ton: „Szenen wie diese gehören zum Alltag“), „Kinder laufen hungernd durch die Straßen“ (O-Ton), „blaugeschlagene Frauen begleiten ihre bereits am Vormittag alkoholisierten Männer“, 12jährige Mädchen kaufen nach der Schule „Haschisch und Speed, als wäre es Hanuta am Schulkiosk“. Gestern nach dem Spiegel-Tag, der Blick streift durch Neukölln: An der U-Bahn-Station Karl-Marx-Straße eine Hungerrevolte, Menschen huschen Deckung suchend von Auto zu Auto, vor den Waffenläden an jeder Straßenecke stehen die blaugeschlagenen Frauen Schlange, und irgendwo errichtet die Russenmafia eine selbstgebaute Zollschranke. Neukölln gestern vormittag, das Ende der Welt. Im Bezirksamt saß derweil ein Bürgermeister und schmierte Stullen – Hunderte, Tausende. Für die Kinder von Neukölln, die mit Blähbäuchen durch die Straßen torkeln und Speed für einen Schokoriegel halten. Erleichtert auf den U-Bahn-Platz gesunken und nochmals Spiegel gelesen. Und einen wahren Satz entdeckt: „In Wahrheit ist meist nichts los.“ Severin Weiland
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