Querschnittsgelähmter Skispringer Müller: „Hey, Luki, machst ’ne Extraschicht?“
Seit einem schweren Sturz beim Skifliegen ist Lukas Müller querschnittsgelähmt. Aber er kämpft sich mit viel Energie ins Leben zurück.
„Komm, lass uns noch rüber zur Weitsprunggrube gehen“, sagt Lukas Müller und schiebt seinen Rollstuhl kräftig an. Dann greift er nach den beiden Gehhilfen, die an der Lehne fixiert sind, und zieht sich an ihnen hoch. Langsam geht der schlanke junge Mann über den weichen Sand Schritt für Schritt vorwärts, dreht nach ein paar Metern um und strebt wieder Richtung Rollstuhl. Als er sich hineinplumpsen lässt, strahlen seine Augen. „Es geht schon ganz gut – aber es ist wahnsinnig anstrengend.“
Müller ist bei seinem täglichen Training in der Leichtathletikhalle des Landessportzentrums Rif bei Salzburg. Auf der anderen Seite machen die österreichischen Skispringer Stefan Kraft und Michael Hayböck Hocksprünge über Hürden. Bis vor einem Jahr hat auch Müller in dieser Gruppe mittrainiert.
Dazwischen liegt der 13. Januar 2016. Müller war als Vorspringer bei der Skiflug-WM am Kulm eingesetzt. Bei eigentlich idealen Flugbedingungen kippte der rechte Ski des dreifachen Junioren-Weltmeisters nach unten; Müller drehte sich und schlug mit dem Rücken auf dem Sprunghügel auf. „Beim Aufprall war mir klar, dass sich mein Leben verändert“, erzählt der 24-Jährige, der den Sturz bei vollem Bewusstsein mitbekommen hat. Es sei gewesen, „wie wenn ein Kabel durchgeschnitten wird“. Die Ärzte diagnostizierten eine inkomplette Querschnittslähmung. Seitdem kämpft Lukas Müller um seine Rückkehr ins normale Leben.
Peter Schröcksnadel, der Präsident des Österreichischen Skiverbands, hat ihm versichert, dass ihn der Verband bei dieser Rückkehr unterstützen wird. Deshalb lebt Müller, der aus Spittal an der Traun in Kärnten stammt, in der Sportschule Rif. Dies ist nicht nur wegen der Trainings- und Rehamöglichkeiten ganz wichtig für den jungen Mann, sondern auch wegen des regelmäßigen Kontakts zu seinen ehemaligen Trainingskollegen. „Das zeigt mir, dass ich immer noch Skispringer bin“, sagt er mit einem Stolz in der Stimme, der nicht zu überhören ist, „das ist für meinen Kopf gut.“
Wieder einen 200er zerstört
Warum er gestürzt ist, darüber gibt es viele Theorien. Wahrscheinlich hat sich eine Schnalle seines Sprungschuhs gelöst. „Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände“, sagt Müller. Punkt. Mehr will er darüber nicht sagen. „Was bringt’s mir, wenn ich darüber nachdenke, wie es wäre, wenn …“ Kurze Pause. Dann setzt er wieder an. Und seine nächsten Worte verstören den Zuhörer: „Ich habe mich geärgert, dass ich mir wieder einen 200er zerstört habe.“ Viermal sei er über diese Marke von 200 Metern geflogen. Der Unglückssprung hätte sein fünfter werden können. „Trotz Sturz war ich 158 Meter weit“, sagt er.
Auf einmal wandern Müllers Augen zur Seite. Die ehemaligen Skisprungkollegen haben ihr Training beendet, schauen noch einmal bei ihrem Kumpel vorbei. „Hey, Luki, machst ’ne Extraschicht?“, fragt Stefan Kraft, Sieger der Vierschanzentournee, und klatscht ab. Dann verschwinden sie – und der Mann im Rollstuhl blickt ein wenig traurig hinterher.
Müller über die Sturzfolgen
Wehmut ist allerdings nicht das Ding von Lukas Müller. Er sprüht geradezu vor Optimismus und schaut viel lieber nach vorn als zurück. „Es ist beeindruckend, zu sehen, mit welchem Enthusiasmus und Ehrgeiz Lukas arbeitet und mit welch positiver Einstellung er die Situation angenommen hat“, sagt Olympiasieger Thomas Morgenstern. Dabei weiß auch er: „Ob er je wieder normal wird gehen können, ist fraglich.“
Das kann auch Müller nicht sagen: „Es gibt keine Prognose, jeder Querschnitt ist anders.“ Sein großes Ziel ist eine größtmögliche Selbstständigkeit. Auf dem Weg dorthin muss er einiges lernen. Zuerst Geduld. Alles geht langsamer, das fängt schon beim Anziehen an. Zur Demonstration zieht er seine lange Trainingshose hoch. „Siehst, da streckt sich mein Bein, ohne dass ich es will.“ Es ist ein Reflex, den er nicht steuern kann. Das ärgert ihn.
So tragisch das Schicksal es mit Lukas Müller gemeint hat, er will die neue Situation nutzen. Damit meint er vor allem die öffentliche Aufmerksamkeit, die er bekommt. Darin ist er sich auch mit Kira Grünberg einig. Auch die 23 Jahre alte ehemalige Stabhochspringerin ist nach einem Trainingssturz querschnittgelähmt. „Ein Querschnitt ist kein Grund zu verzweifeln“, sagt Müller. Grünberg: „Man kann im Rollstuhl ja fast alles machen wie ein normaler Mensch, und ich habe wunderbare Momente im Rollstuhl erlebt.“
Je normaler, desto besser
Je normaler das Umfeld mit einem querschnittgelähmten Menschen umgehe, meint Müller, „desto geiler ist das Leben“. Als gutes Beispiel führt er dazu seine ehemalige Skisprunggruppe an. Noch immer holten sie ihn abends ab, um etwas zu unternehmen. Und künftig wird er noch selbstständiger, wenn er sein eigenes Auto mit Handsteuerung hat. Und mit Standheizung, „denn Scheiben kratzen kann ich nicht“.
Nicht nur über seine Kumpels im Trainingszentrum Rif will Müller den Kontakt zum Skispringen aufrechterhalten. „Ich habe keine Angst vor Schanzen.“ Deshalb besuchte er den Sommer-Grand-Prix in Hinzenbach. Auch bei der Vierschanzentournee will er dabei sein. „Es ist bemerkenswert, wie er kämpft und alles gibt, um aus dem Rollstuhl herauszukommen“, sagt der deutsche Bundestrainer Werner Schuster. „Ich hoffe, dass er den Weg Schritt für Schritt weitergeht und in ein normaleres Leben zurückkommt“, sagt der deutsche Springer Andreas Wellinger. Dazu beitragen soll neben einer Ausbildung zum Wertpapiervermittler auch der Trainerschein, den er anstrebt.
Lukas Müller schiebt seinen Rollstuhl wieder kräftig an. An der Weitsprunggrube fährt er vorbei in Richtung Zimmer. Nach der anstrengenden Trainingseinheit braucht er Ruhe.
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