Kolumne Pressschlag: Nein! Wir können nicht fliegen!
Der Wettstreit um den Weiten-Weltrekord im Skifliegen hat den kritischen Punkt längst hinter sich gelassen. Sind 300-Meter-Sprünge möglich?
Es ist der ewige Traum des Menschen vom Fliegen. Sehr nahe kommt er diesem Wunsch beim Skispringen – und noch näher beim Skifliegen. Bis zu zehn Sekunden sind die Sportler in der Luft. Lediglich ihr Körper und zwei 2,50 Meter lange Latten dienen als Tragfläche.
Doch so faszinierend es ist, dass dieses kleine Flugsystem funktioniert, so anfällig ist es. Kleinste Störungen können es aus der Balance bringen. Mit verheerenden Folgen. Bei der Skiflug-WM, die von Freitag bis Sonntag in Kulm stattfindet, ist am Mittwoch der Vorspringer Lucas Müller, Juniorenweltmeister von 2009, abgestürzt. Er hat sich zwei Wirbel der Halswirbelsäule gebrochen. Die Ärzte sprechen von einer inkompletten Querschnittslähmung. Noch besteht die Hoffnung, dass er irgendwann wieder laufen kann.
Komplett querschnittsgelähmt ist seit einem Sturz vor einem Jahr in Bischofshofen der US-Amerikaner Nick Fairall. Selbstverständlich wissen die Springer, auf welche Gefahren sie sich einlassen. Beim Skispringen und erst recht beim Skifliegen. „Wir sind nicht in einer Sportart, in der nie was passiert“, sagt Severin Freund.
Das Skifliegen steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite versucht der internationale Skiverband FIS alles Menschenmögliche zu tun, dass die Risiken minimiert beziehungsweise kalkulierbar werden. Auf der anderen Seite soll das Spektakel nicht zu kurz kommen. Um Letzteres weiter zu steigern, findet derzeit nicht nur unter den Springern ein permanenter Wettstreit statt, sondern auch unter den Skiflugveranstaltern.
300 Meter weit fliegen?
Fünf Skiflugschanzen gibt es derzeit: Harrachov, Kulm, Oberstdorf, Planica und Vikersund. Immer wieder werden die umgebaut, meist mit nur einem Ziel: noch weitere Flüge. „Es lockt der Weltrekord“, sagt Hubert Neuper, der Organisator der Skiflug-WM am Kulm, „der Wettbewerb ist erst dann attraktiv, wenn möglichst viele Athleten an die Hillsize heranfliegen.“
Momentan steht der Weltrekord bei 251,5 Metern, gehalten vom Norweger Anders Fannemel. Doch schon macht die Zahl 300 die Runde. „Das wäre gigantisch, wenn irgendwann auch Flüge an die 300-Meter-Marke möglich sind“, sagt der Weltrekordler. Zum Glück ist Walter Hofer, der FIS-Rennsportdirektor, nicht ganz so euphorisch: „300 Meter und mehr sind theoretisch möglich, wir wollen aber keine Rekordjagd um jeden Preis.“
Denn auch so sind die Belastungen für die Athleten enorm. Psychisch wie physisch. 1998 wurden die Adrenalinspiegel von Martin Schmitt und Sven Hannawald gemessen: Der Wert übertraf die Obergrenze um das Vierfache. Es sind Werte, die sonst Menschen in Todesangst haben.
Es wird Adrenalin ausgeschüttet wie sonst nur im Todeskampf. Das Vierfache des Zumutbaren
Mit jedem Meter mehr an Flugdistanz steigt auch die Belastung für die schmächtigen Körper. Bei jeder Landung werden die Springer bis zu fünf g, also mit dem Fünffachen ihres Körpergewichts belastet.
Zu guter Letzt bleibt noch der sportliche Aspekt. Je größer die Schanzen, desto größer werden auch die Abstände zwischen den Springern. Packende Zweikämpfe wie momentan zwischen Severin Freund und Peter Prevc werden zur Ausnahme, und dass sich gar ein Dritter überraschend einklinkt, wird eher unwahrscheinlich.
Und Spannung ist allemal besser als Sensation. Oder gar schwer verletzte Springer.