Queer von Berlin nach Stettin: „Wir müssen mit Gewalt rechnen“
Voices4Berlin ruft dazu auf, am Samstag zur Pride Parade ins polnische Stettin zu fahren. Die LGBTQI -Community brauche dringend Unterstützung.
taz: Herr Junk, vor einem Jahr fand in Stettin die allererste Pride Parade statt. Bei der diesjährigen Demo rufen Sie mit Ihrer Organisation Voices4Berlin die Berliner*innen dazu auf, nach Stettin zu fahren, um mit zu demonstrieren. Wieso ist die Berliner Unterstützung der LGBTQI Bewegung in Polen so wichtig?
Kevin Junk: Berlin ist eine der queersten Städte auf der ganzen Welt. Ich glaube, dass wir Aktivismus zu lokal denken. Durch das Internet gibt es aber mittlerweile eine globale queere Community. So ein Konstrukt wie Ländergrenzen sind gar nicht so wichtig für uns. Wir haben alle Diskriminierungserfahrungen, und wir wollen einfach unterstützen.
Die Situation in Polen wird ja derzeit immer konservativer. Und wenn wir einfach da sein können, indem wir als Menschen präsent sind, dann ist schon sehr viel getan. Wichtig ist auch: Wir folgen dem Aufruf von lambda szczecin.
Die Gruppe lambda szczecin, die auch die Demo in Stettin organisiert, versucht Beratungs- und Austauschmöglichkeiten für queere Menschen zu schaffen. Wie ist der Kontakt zustande gekommen?
Kevin Junkl
ist 30 Jahre alt und lebt in Berlin. Neben seiner Arbeit als Content Creator und Journalist engagiert er sich bei Voices4Berlin.
Lambda szczecin hat ein Video veröffentlicht, in dem sie dazu aufgerufen haben, die Demo zu unterstützen. Als wir das gesehen haben, war uns klar: Wir möchten dahin und auch andere auffordern, mitzukommen.
Was erwartet die Berliner*innen bei der Szczecin Pride?
Auf dem Flyer steht ein Fest der Liebe. Familienpicknick, Konzerte, Vorträge, Diskussionen, After Party. Das ist das offizielle Programm.
Kann man sich das dann vorstellen wie einen Christopher Street Day in Berlin?
Den CSD in Berlin sehe ich sehr kritisch. Es ist eine durchkommerzialisierte Veranstaltung, bei der sich muskulöse Menschen oben ohne auf die Straße stellen und eine Idee von sexueller Vielfalt präsentieren, die komplett entkernt ist von jeder politischen Haltung.
Wird das in Stettin anders?
Es ist schwer, den CSD mit dem zu vergleichen, was in Stettin passiert. Wir als Gruppe sind politisch. Wir sind nicht da, um unsere Körper zur Schau zu stellen, sondern wir sind da, um als politischer Körper da zu sein. Dort ist die politische Lage auch eine ganz andere.
Bei einer Demo vor zwei Monaten in Białystok wurden zum Beispiel Böller, Steine und mit Urin gefüllte Flaschen geworfen. Mit wie starkem Gegenwind rechnen Sie diesmal?
Wir müssen mit Gewalt rechnen, das ist klar. Uns wurde auch ganz deutlich gesagt, es gibt Polizeischutz. Es gab in Białystok auch Attacken von Hooligans und etwa zwanzig Festnahmen. Das ist nicht ohne. Da mussten wir als Gruppe auch erst mal schlucken.
Und wie bereitet ihr euch auf die Demo vor?
Wir bringen vor allem Infrastruktur mit: Wir haben in der Gruppe Leute, die haben Powerbanks, Wasser und einen Erste-Hilfe-Kasten bei sich. Sie sollen auch psychologische Ansprechpartner sein.
Trefft ihr denn auch Vorsichtsmaßnahmen?
Wir versuchen uns so gut wie möglich daran zu halten, was uns gesagt wurde. Zum Beispiel besser keine Regenbogenflaggen offen vom Bahnhof zur Demo zu tragen. Ansonsten versuchen wir uns auch einfach durch die Masse zu schützen, die wir sind.
Mit wie vielen Teilnehmer*innen rechnet ihr denn?
Das ist schwer zu sagen. Wir sind auf jeden Fall nicht die einzige Gruppe. Ich sehe jedenfalls auch viele Leute in meinem Umfeld, die sich selbst organisieren. Die sagen einfach: Hey, lass uns ein Auto mieten oder eine Zugverbindung raussuchen, und dann fahren wir los. Das sieht man ganz viel auf Facebook.
Was für ein Verhältnis habt ihr als Berliner Organisation zu der Community in Polen?
Wir sind im regen Kontakt. Soweit ich weiß, haben wir selbst keine polnischsprachigen Menschen bei Voices4Berlin. Aber wir haben versucht, alle heranzuziehen, die wir kennen – zum Beispiel polnischstämmige und polnischsprachige Freunde.
Wer steckt denn hinter Voices4Berlin und wie werbt ihr für die Demo?
Wir sind ein sehr bunter Haufen. Ich als Texter, Konzepter und Journalist kümmere mich um die Texte. Andere machen Design oder haben Kontakte. Wir haben einfach radikal improvisiert, was unser Skillset angeht. Unser Ziel war es, dieses Festival möglich zu machen und dafür zu mobilisieren.
War das denn schwer?
Für manche ist Stettin bereits ein Ausflugsziel. Viele mussten sich aber erst informieren. Da gibt es auch ein innereuropäisches Aufwachen: Hey, das sind ja unsere Nachbarn.
Wie seid ihr eigentlich entstanden?
Gegründet haben wir uns im Juni – auf Initiative einer Person, die in New York gelebt hat. Wir sind so gesehen mit Voices4_, einer Gruppe in New York, eng verbunden.
Aber in Berlin gibt es doch schon viele queere Gruppen…
Ja, aber queere Politik- und Interessensvertretungen sind oft einfach sehr bürokratisch und dadurch wenig handlungsfähig. Es geht bei uns wirklich um direct action. Es geht um Austausch, der nicht in einem ausuferndem Plenum endet. Wir wollen etwas Agileres und Aktiveres machen.
Wer macht bei euch mit?
Wir sind jung, studentisch und sehr divers, was sexuelle Identitäten angeht. Der Dialog zwischen den verschiedenen Erfahrungshorizonten belebt die Gruppe: gender-non-binary, trans, queer, schwul: Bei uns sind alle vertreten.
Was sind eure Ziele?
Wir wollen queere Solidarität auf der ganzen Welt und Sichtbarkeit schaffen. Menschen eine Plattform geben und zeigen: Du bist nicht allein. Das wollen wir auch in direkte Aktionen umsetzen und nicht nur im abstrakten Feld der Diskussion bleiben.
Wie organisiert ihr euch?
Wir haben eine WhatsApp-Gruppe und treffen uns jede Woche am Donnerstag. Zu diesen Treffen kann jeder kommen, der sich mit unseren Zielen identifiziert. Alle Informationen findet man auch auf unserem Instagram-Account Voices4Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen