Putin-Doku in der ARD: Ein lupenreiner Unsympath
Der Journalist Hubert Seipel kommt in seiner Doku "Ich, Putin" seinem Protagonisten sehr nahe. Immer wieder entlockt er ihm ungewöhnliche Reaktionen.
Gefühle waren tabu, damals in der Einzimmerwohnung im Leningrad der 50er und frühen 60er Jahre. "Ich kann nicht behaupten, dass wir eine sehr emotionale Familie waren, dass wir uns gegenseitig etwas erzählten. Jeder lebte irgendwie in sich selbst." Eine ganz normale Familie eigentlich. Das Besondere an dieser Aussage ist, dass sie von Wladimir Putin stammt, der sich gerade zum dritten Mal um das Amt des Staatspräsidenten in Russland bewirbt.
Zu der persönlichen Vergangenheitsbewältigung hat ihn Hubert Seipel im Zuge seines Porträts "Ich, Putin" animiert. Über sein gegenwärtiges Privatleben wollte der Politiker nicht sprechen. "Das war die einzige Vereinbarung, die wir getroffen haben. Das kam mir aber entgegen, weil ich gar nicht wissen will, ob er drei Kinder mehr hat als bekannt", sagt Seipel.
Der NDR - federführend bei der Produktion dieses Porträts - wirbt damit, dass Putin im Präsidentschaftswahlkampf vor dem 4. März bisher keinem anderen TV-Journalisten als Seipel für Interviews zur Verfügung gestanden habe. Drei Gespräche hat der Filmemacher mit Putin zwischen Oktober und Ende Januar führen können. Ein Thema, das der Politiker dabei immer wieder angeschnitten habe, sei die Frage gewesen, "warum wir im Westen eigentlich ihn und seine Logik nicht verstehen", sagt Seipel.
Der Autor hat Putin auch im Wahlkampf und bei privaten Anlässen begleitet. Immer wieder im Bild: der Machthaber als Sportskanone. Der 59-Jährige spielt Eishockey, betreibt Kampfsport (Judo), sein Kraulstil ist auch nicht übel. Seine Arbeitsweise erläutert der mehrfach ausgezeichnete Seipel so: "Nähe verbrennt ja immer, aber wenn man wirklich etwas über jemanden erfahren will, muss man Nähe eingehen, um sich dann wieder zu entfernen." Ein Ansatz, der Seipel einen erwartbaren Propagandaverdacht eingebracht hat, den sein Film aber entkräftet.
Nacht-Plausch mit Putin bis um halb vier
Wie es zuging zwischen den beiden, verdeutlicht eine Episode von einer Jagd in Sibirien, bei der der ARD-Mann dabei war. Am späten Abend sei ein Sprecher gekommen, um ihm auszurichten, Putin wolle jetzt "am Kamin" mit ihm reden. Seipel hat aber keine Lust: "Ich war müde, und der Kameramann war bereits im Bett", sagt er. Putin artikuliert dennoch weiterhin sein Redebedürfnis, weshalb es zu einem Kompromiss kommt: einem nächtlichen Hintergrundgespräch. Es dauert bis halb vier.
"Ich, Putin" lebt davon, dass Seipel seinen Gesprächspartner zu Reaktionen animiert, die für einen Staatsmann unüblich sind. Als der Interviewer erwähnt, ein geplanter sogenannter Raketenschutzschild der Nato, den Russland als Bedrohung empfindet, richte sich laut Darstellung des Militärbündnisses gegen den Iran, lacht Putin. Nicht nur kurz, nein, er lacht sich fast kaputt. "Sie haben mich zum Lachen gebracht, Gott segne Sie!", sagt er. An einer anderen Stelle fragt Seipel: "Sie sind von Haus aus kein Diplomat?" Kein Problem für Putin: "Überhaupt nicht", sagt er und grinst.
Seipel illustriert die Antwort mit einer Szene vom EU-Russland-Gipfel 2002. Nachdem ein Teilnehmer die russische Kriegspolitik in Tschetschenien kritisiert hat, wird Putin maulig: "Wollen Sie ein radikaler Islamist werden und sich beschneiden lassen?" Es gebe Experten in Moskau, die das könnten. "Ich werde jemanden anweisen, Sie so zu beschneiden, dass nichts mehr nachwächst." Andere Politiker blicken entsetzt in den Raum. Auch Seipel sagt, er sei "von den Socken" gewesen, als er das "das erste Mal gehört habe".
Ein politischer Unsympath als perfekte Besetzung
Im Gespräch mit dem ARD-Mann wird Putin nur einmal ungehalten - als Seipel die Prozesse gegen Putins Gegenspieler, den weiterhin inhaftierten Geschäftsmann Michail Chodorkowski, kritisiert. Am Freitag läuft Seipels Film beim russischen Gazprom-Sender NTV – unzensiert, wie dem NDR zugesichert wurde.
Putin erweist sich immer wieder als unterhaltsamer Unsympath. So zeigt Seipels Porträt einmal mehr, dass Schurken auch für Dokus reizvolle Filmfiguren sind. Als Ergänzung zeigt das Erste im Anschluss einen Film von Ina Ruck und Georg Restle über die regierungskritischen Demos der letzten Wochen: "Götterdämmerung im Kreml? Opposition gegen Putin" (23.30 Uhr).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin