Pussy-Riot-Aktivist über Ukraine: „Die Menschen fühlen sich nicht verantwortlich“
Piotr Wersilow protestierte, wurde festgenommen, vergiftet. Während des Angriffskriegs auf die Ukraine hat er Selenski getroffen – und den Papst.
taz: Herr Wersilow, gerade sind Sie zurück in Berlin, wo Ärzte Ihnen 2018 das Leben retteten, nachdem Sie in Moskau vergiftet wurden. Hätten Sie in Ihrer Heimat Russland überlebt?
Piotr Wersilow: Nein. Der Geheimdienst FSB kontrollierte das gesamte Krankenhaus. Meine Familie und die Anwälte blieben draußen. Ich wurde nicht richtig behandelt. Deshalb wurde ich evakuiert, erst über die Ukraine, dann nach Deutschland.
Zwei Jahre nach ihnen wurde auch der Oppositionsführer Alexei Nawalny vergiftet. Der Fall wurde weltbekannt. Warum wurden Sie vergiftet?
Präsident Wladimir Putin sah unser Protest während des FIFA-Finales der Fußballweltmeisterschaft in Moskau. Die ganze Welt schaute zu. Er saß neben dem französischen Präsidenten Macron und verstand, dass Pussy Riot unbedingt gestoppt werden musste. Mehrere Mitglieder, darunter meine Ex-Frau, wurden bereits zu Haftstrafen verurteilt. Aber das hat nicht geholfen. Deshalb haben sie versucht, mich zu töten. In Russland gilt das Gesetz nicht.
(34) ist Pussy-Riot-Aktivist und russischer Dissident. Nachdem er Russland verlassen hatte, lebte er in Georgien im Exil, jetzt reist der Journalist an die Front der Ukraine. Pussy Riot demonstriert seit Jahren gegen die mächtige orthodoxe Kirche und die russische Regierung.
Ihre Aktion beim Finale der Fußballweltmeisterschaft gegen den russischen Polizeistaat sah die ganze Welt.
Wir hatten diese Art von öffentlichem und wirksamem Protest schon jahrelang mit Pussy Riot eingesetzt. Russland versuchte damals, vor Hunderttausenden von ausländischen Fans ein liberales Gesicht des Landes zu zeigen. Sie hörten sogar auf, Leute mit Bier auf der Straße festzunehmen.
Wir haben bei unserem Performance aber darauf hingewiesen, dass es politische Gefangene und keine freie Presse gibt. Wir stürmten in Polizeiuniformen auf den Platz, da die Polizei uns unterdrückt.
Mit Protesten dieser Art riskieren die Aktivisten vom Kunst- und Musikgruppe Pussy Riot immer wieder Repressionen. Trotzdem machen sie weiter. Welche Erfolge hat Pussy Riot damit?
Wir haben es geschafft, so etwas wie Tapferkeit zu zeigen. Das ist sehr wichtig, wegen der Unterdrückung in Russland. Um keine Angst zu haben. Wir sehen unseren Einfluss auf Künstler und Politiker, auf Generationen, die sich für ihr Land einsetzen.
Fühlen Sie sich im Westen freier?
Obwohl ich jahrelang gegen Putin gekämpft habe, fühle ich mich auch in Moskau pudelwohl. Trotz der Zeit im Gefängnis, wo ich regelmäßig wochenlang festgehalten wurde. Aber dann ist man wie gelähmt, man kann nichts tun.
Sie waren der erste Russe während des Krieges in der Ukraine, der Präsident Wolodimir Selenski interviewte.
Ja. Für unser unabhängiges Portal Mediazona, das jeden Monat 45 Millionen Besucher hat, obwohl unsere Webseite in Russland blockiert ist. Jeder benutzt deshalb VPN, um die Blockade zu umgehen. Insgesamt waren wir zwei Monate in der Ukraine.
Wie war ihr Treffen mit Selenski?
Es war sehr bewegend. Er ist die richtige Person, um das Land zu führen. Er ist ein erstaunlicher Held des Krieges. Ich sprach mit ihm und dem amerikanischen Filmemacher Beau Willimon, der House of Cards entwickelt hat, über die Idee eines Dokumentarfilms.
Sie haben ihr Land verlassen, genauso wie Schachlegende Gari Kasparow, der in den Vereinigten Staaten lebt. Auch er protestierte jahrelang in der Öffentlichkeit gegen Putin, wurde oft verhaftet.
Ich stehe mit meiner Webseite und meinem Foto auf der „Most-wanted-Liste“ der meistgesuchten Menschen in Russland, weil ich angeblich nicht die Wahrheit über den Krieg erzählt hebe. Jetzt wird man schon verhaftet, wenn man vermeintliche Fake News über die russische Armee und ihre spezielle Operation verbreitet.
In Russland wird man mittlerweile schon festgesetzt, wenn man nur mit einem weißem Blatt Papier protestiert. Manche Menschen, die demonstrieren, schicken sie in sibirische Straflager.
Ja, so ist es.
Gibt es heutzutage einen neuen Form des Stalinismus?
Es ist anders als im letzten Jahrhundert. Aber das stalinistische System, das es wirklich in Russland gibt, und nur dort, ist die alleinige Herrschaft einer Person. Putin hört jedoch nicht auf seine Eliten.
Sie trafen mit Müttern aus Mariupol den Papst. Hat er denn Einfluss auf Putin?
Der Papst ist sehr wichtig. Erst vor Kurzem wurden mit seiner Hilfe Bürger aus Mariupol evakuiert, auch mit Unterstützung der UN und des Roten Kreuzes. Es gab dort bei den Asow-Kämpfern im belagerten Stahlwerk kein Wasser, keine Ernährung, keine Medizin. Die Leute bekamen ein Glas am Tag zu trinken.
Warum reist der Papst nicht in die Ukraine?
Er möchte mit beiden Kriegsparteien sprechen. Er wollte zuerst nach Moskau, zu Präsident Putin und Patriarch Kyrill, und dann nach Kiew. Doch Putin lehnte ab.
Sind die Sanktionen gegen den Patriarchen Kyrill gut?
Ja, denn er unterstützt den Krieg. Er stellt sich gegen den Papst. Sie sprachen lange miteinander. Fast eine halbe Stunde hat Kyrill nur russische Kriegspropaganda vom Blatt abgelesen.
Nun drängt sich immer wieder der Eindruck auf, dass die russische Offensive in der Ukraine nicht mehr so schnell vorankommt. Zumindest nicht so schnell wie von Putin erhofft.
Die ganze Welt ist von den Fehlern der russischen Armee überrascht. Putins Armee ist korrupt und ineffizient. Ihre Kampfmoral ist niedrig. Er kann nicht wirklich etwas dagegen tun.
Wie lange wird es dann wohl noch dauern, bis die russische Bevölkerung wirklich aufbegehrt?
Schwer zu sagen. Sie können nicht länger als vier, fünf Monate Krieg führen. Sie sind erschöpft. Aber in meinem Land gibt es keine Kultur des Protests gegen die Polizei.
Es gibt immer noch viel Unterstützung für den Krieg.
Ja, etwa zwanzig bis dreißig Prozent der russischen Bevölkerung, schätze ich. Die finden es gut, was passiert. Vor allem wegen der Propaganda und der Nostalgie nach der Sowjetunion.
Die Russen werden noch lange mit der Schuld für die Verbrechen in diesem Krieg leben müssen.
Ja, aber die Menschen fühlen sich nicht für diesen Krieg verantwortlich. Sie sehen nur fern. Sie sind isoliert von der Schuldfrage.
Und wie ist die Situation für Sie als Russe?
Ich ging in Kanada zur High School, habe einen kanadischen Pass. Und ich habe mich seit Jahren gegen das russische System eingesetzt.
Im russischen Fernsehen wird zur Hauptsendezeit gezeigt, wie schnell die Atomraketen auf Westeuropa zusteuern könnten. In wenigen Minuten von Kaliningrad nach Berlin, Paris und London.
Die Armee ist ineffektiv und korrupt. Viele Teile werden geklaut und weiterverkauft.
Was würde denn geschehen, wenn Putin seinen Willen wirklich nicht durchsetzt?
Es ist gut, wenn er in die Ecke gestellt wird. Ich bin sicher, dass er keine Atomwaffen einsetzt. Ich weiß nicht, ob sie funktionstüchtig sind. Es besteht die Möglichkeit der Sabotage.
Das russische Narrativ bleibt gleich, sie sprechen immer wieder von „Nazis“ in der Ukraine.
Völliger Blödsinn. Die russische Propaganda hat sich geändert. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sieht man in Europa eine riesige Armee, die in großem Stil Gräueltaten an der Zivilbevölkerung verübt. Wir haben es in Butscha und Kiew gesehen. Menschen wurden gefesselt, sie wurden erschossen, es gab Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen, Folter. Das gleiche Verhalten wie bei den Nazis im Zweiten Weltkrieg.
Die Nationalsozialisten waren verantwortlich für den Holocaust und dutzende Millionen Tote. Das ist ein Unterschied. Und Sie vergessen, wie viele Leute, die Balkankriegen in den neunziger Jahren. Im ehemaligen Jugoslawien kamen Hunderttausende ums Leben.
Ja, aber jetzt sterben schon in den ersten Monaten so viele Menschen. Das ist eine neue Dimension des Krieges in Europa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben