Puritanisches Mißtrauen

Bruno Madernas „Satyricon“ und René Hirschfelds „Bianca“ in Leipzig  ■ Von Irene Tüngler

George Tabori — dieser Name war im Salzburger Festspielsommer '91 ein Schreckschuß, entferntes Donnergrollen vor heraufziehenden Veränderungen am Hort der gepflegten Musen. Zwei Jahre zuvor war ihm dort eine Inszenierung unter dem sittenstrengen Vorwand verboten worden, die beteiligten Damen trügen keine Unterwäsche. Und nun kam er wieder, um mit Udo Zimmermann als Dirigent und Kursanten der Sommerakademie des Mozarteum erneut an heiliger Stätte zu inszenieren: Bruno Madernas Satyricon nach Petronius.

Zusammen mit der Kammeroper Bianca des 1965 geborenen Zimmermann-Schülers René Hirschfeld aus Dresden wurde diese Produktion jetzt nach Leipzig übernommen.

Seltsame Effekte psychologischer Art ergaben sich zwischen Bühne und Parkett. Das Tabori-Maderna- Petronius'sche Spektakel, welches ein internationales Publikum an linden Sommerabenden amüsierte, entlockte den Sachsen am lind-feuchten Winterabend kaum ein müdes Grinsen. Dagegen wirkte das strenggebaute Dreipersonenstück Bianca, in Salzburg völlig hinter das skurrile Satyricon zurückgetreten, viel intensiver.

René Hirschfeld spielt eine neue Strophe des alten Liedes vom jungen Weib des älteren Ehemannes. Von den Geschäften heimkehrend, findet der Tuchhändler Simon sie in den Armen des schönen, reichen Prinzen Guido Bardi — wie Oscar Wilde es in seiner Florentinischen Tragödie wollte. Zu einer Bratschenfigur von sehnsuchtsschwüler Chromatik und einer melancholischen Harfenmelodei im Madrigalstil inszeniert Regisseur Uwe Wand für das Liebespaar eine weltentrückte Atmosphäre. Mit harten Akzenten auf schriller Klangfläche bricht die Wirklichkeit: das mühsame Geschäftsleben, der krummgezogene Gatte, ins ästhetische Idyll ein. Man konversiert giftig, was man so konversiert in derartigen Situationen — „ich hasse ihn“, kommt endlich aus der Tiefe der Seele und der Höhe des Soprans der bildschönen Bianca — bis die Männer zu Schwert und Dolchen greifen. Es folgt eine spannend choreographierte Duellszene, zu der Hirschfeld eine starke kompositorische Talentprobe liefert. Mit langem Atem steigert er die Spannung, verschränkt er die drei musikalischen Figuren mit der Sopranstimme. „Töte ihn“, schrillt sie und weiß am Ende nicht, wen sie meint.

Die gegenüber dem Sommer gewachsene Sicherheit und Intensität, mit der die beiden jungen Sänger Yvonne Füssel und Pär Lindskog sowie der in Leipzig populäre Schauspieler Friedhelm Eberle in der Sprechrolle des Simon agierten, ist möglicherweise nicht die einzige Ursache des Erfolges. Eine gewisse ohrenbetörende Süße der Musik kommt hinzu. Und: es ist eine klare Sache mit den drei Protagonisten, mit Inhalt und Form der Kunst.

Satyricon kann man spielen, wie man will. In beliebiger Szenenfolge. In der ausladenden Ledersessel-Architektur der österreichischen TV- Talkrunde Club2 trifft sich vor laufenden Kameras eine absonderliche Gesellschaft schräger Typen, palavert allerlei Alltägliches, Philosophisches, Komisches, Drastisches, Unverständliches und Banales in englisch, französisch, chinesisch, latein, russisch, sächsisch, in koloraturspanisch und Händel-Alt. Man säuft, frißt, furzt, verdaut und vögelt, beklaut und betrügt sich; alle lieben den kleinen dicken Trimalchio (Horst Hiestermann, gut bei Stimme, schwach im Englischen), alle respektieren Fortunata, die zur Gattin erhobene Hure (mit einigem Showtalent Christine Hansmann). So kraus die Figuren, so kraus auch die Musik, eine verknäuelte Zitatensammlung der hehreren und niederen Musikgeschichte: Humba täterä bis Siegfrieds Trauermarsch. Spottgesichte.

Es bedeutet, wie Zimmermann in einer anschließenden Podiumsdiskussion provozierte, nichts; wie Tabori dagegenhielt, alles: „kapitalistischen Realismus“ und die Utopie eines demokratischen Theaters. Kommunikation, die nicht erklärerisch sein will. Jeder mag seinen Schlüssel finden.

Die Zuschauer in Leipzig fanden ihn so recht nicht. Ein in den Menschen tief verwurzelter Protestantismus mit seiner rationalistisch-aufklärerischen Wut, nach der alles durchleuchtenden Weltformel zu suchen, in der jüngsten Geschichte unter den Namen Wissenschaftliche Weltanschauung gemodelt und so fortgesetzt, läßt kaum Raum für das geistige Experiment, für Assoziationen, für Nichteinsortierbares. Außerdem lag über der Drehscheibe des Leipziger Opernhauses, die für Akteure und Zuschauer das Podium abgab, ein puritanisches Mißtrauen gegen drastische Körperlichkeit und gegen das unernst Spielerische.

Ein kaum dreißigjähriger Theaterchef aus Tartu im Süden Estlands hat jüngst formuliert, was die Leute wollen: keine Experimente mehr mit sich. Nachdem 40 Jahre Sozialismus ein einziges Experiment waren, nun endlich und auch und vor allem Theater: gutbürgerlich konsumierbare Solidität und Normalität. Dagegen wird die Kunst mit sanfter Überzeugungskraft angehen wollen, damit wird sie in Leipzig, Tartu und Umgebung eine Weile leben müssen.