Pulkbildung: Die hochkomplexe Wissenschaft von der Verspätung der Busse
Es beginnt mit einer klitzekleinen Verspätung: einem Verzug im Larvenstadium, der dann auf unheimliche Weise immer weiter wächst ...
E in grauer Dienstagvormittag, es nieselt. Das ist schlimm genug, wird aber durch den Umstand verschärft, dass es an unserer Haltestelle kein Wartehäuschen gibt - obwohl es sich um eine sogenannte Metrolinie handelt. Gut, dass alle fünf Minuten ein langer Gelenkbus die Sonnenallee heraufgerollt kommt, um schlecht gelaunte, nieselnasse Neuköllner einzusammeln.
Das heißt: Der Bus müsste kommen. Er müsste schon längst gekommen sein. Laut Fahrplan war mit vier Minuten Wartezeit zu rechnen, einer selbst bei Regen überschaubaren Spanne. Jetzt sind acht Minuten vergangen, jetzt zehn. Die Haltestelle füllt sich mit Menschen, die in immer kürzeren Abständen mit finsterer Miene die Armbanduhr kontrollieren oder in einem nicht ungefährlichen Manöver den Hals über die Straßenkante hinaus verrenken. Fünfzehn Minuten. Selbstverständlich regnet es weiter. Da, endlich: Ein Bus taucht auf. Nein: zwei! Drei! Drei sonnengelbe BVG-Busse kriechen im Konvoi heran. Wir nehmen den zweiten, der erste ist brechend voll.
Später, als der Ärger verraucht ist, bleibt das Grübeln: Wie entstehen eigentlich diese merkwürdigen Fahrzeugkolonnen? Unbekannt ist das Phänomen ja nicht und keineswegs auf Neukölln beschränkt. Steckt ein archaischer Herdentrieb von Busfahrern dahinter? Fühlen sie sich im Verband sicherer? Und wie schaffen sie es eigentlich, nach nur zehn Stationen - so viele trennen unsere Haltestelle vom Startpunkt der Linie - derartig verspätet zu sein?
Wir haben schließlich bei der BVG nachgefragt. Und siehe da: Das Konvoifahren ist ein altbekanntes Problem, auch wenn es bei den Strategen des Verkehrsunternehmens anders heißt: "Pulkbildung". Wie es zu ihr kommt und warum die Fahrer ihr machtlos gegenüberstehen, hat uns BVG-Sprecherin Petra Reetz erklärt. "Pulkbildung", sagt sie, entsteht nur "auf stark ausgelasteten Buslinien mit dichtem Takt". Wir versuchen das Prinzip mal in unseren eigenen Worten wiederzugeben.
Es beginnt meistens ganz harmlos, mit einer klitzekleinen Verspätung irgendwo auf der Strecke. Vielleicht ein Fahrgast, der sich vor dem Kauf seines Tickets erst einmal das Tarifsystem erklären lässt. Oder ein Kinderwagen, der sich beim Aussteigen irgendwo verkeilt. Oder der Stau hinter dem Riesenlaster, der ausgerechnet dort entladen werden muss, wo die Fahrbahn ohnehin am engsten ist.
Noch handelt es sich nur um eine Verspätung von ein, zwei Minuten: ein Verzug im Larvenstadium sozusagen. Aber der beginnt jetzt auf unheimliche Weise zu wachsen: Weil der Abstand zum vorausfahrenden Bus größer geworden ist, warten mehr Fahrgäste an den Haltestellen. Der Bus wird immer voller, das Ein- und Aussteigen dauert immer länger. Der nachfolgende Fahrer findet dagegen paradiesisch leere Haltestellen vor und rückt beharrlich auf - bis er den Problembus eingeholt hat.
"Ist dieser Punkt erst erreicht, gibt es keine Lösung mehr", erklärt Frau Reetz. Entweder fährt Bus Nummer zwei (drei, vier usw.) fast leer hinterher - oder er überholt. Damit ist das Problem aber nicht gelöst. Denn beim nächsten fahrplanmäßigen Stopp bremst ihn die Traube der Wartenden aus, und der volle Bus Nummer eins - jetzt zwei - holt ihn wieder ein. Überholen kann der aber Bus Nummer zwei - jetzt eins - nicht, weil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jemand an dieser Haltestelle aussteigen möchte. "Und schon 'kleben' die Busse aneinander", sagt Petra Reetz.
Da sind wir platt: Offenbar trifft die Fahrer tatsächlich keine Schuld. Schuld ist - mal wieder - das System. Denn verhindern lässt sich das verhängnisvolle Aufschaukeln von Verspätungen nach Angaben der BVG-Sprecherin nur, wenn die Busse ihren Takt exakt einhalten können. "Und dazu bräuchten wir eine eigene, unabhängige Trasse für die Busse oder zumindest eine Strecke mit weniger Behinderungen." Dass das an der Sonnenallee und anderswo nicht der Fall ist, fällt in die Verantwortung der bezirklichen und überbezirklichen Verkehrsplaner.
Wenn es also irgendwann mal wieder länger dauert an der Haltestelle, meditieren wir eben ein wenig über das komplexe Verhalten von Verkehrsströmen und die Aporie der Fahrplaneinhaltung unter suboptimalen Voraussetzungen, der ja zumindest ein gewisser intellektueller Reiz innewohnt. Nur das Wartehäuschen gegen den Regen, das könnte die BVG jetzt wirklich mal aufstellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“