Psychologin über sexuellen Missbrauch: „Die Familie ist unantastbar“
Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch wird oft mit Überforderung reagiert, sagt die Psychologin Katrin Schwedes. Auch Lehrer müssten besser geschult werden.
taz: Frau Schwedes, die Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs speziell in der Familie hatte gestern ihr erstes Hearing. Was kann diese Kommission bringen?
Katrin Schwedes: Die sexualisierte Gewalt im familiären Kontext ist immer die, die am schnellsten in der Schublade verschwindet. Wenn es der „Fremde“ in der Schule oder der Umkleide war, dann können wir das besser verdauen, als wenn Missbrauch in der Familie stattfindet. Das ist das Besondere an dieser Kommission, in anderen Ländern wird die Familie in solchen Aufarbeitungskommissionen immer ausgespart.
Was ist das schwer Verdaubare an dem Thema?
In der Öffentlichkeit ist ein fremder Täter besser vermittelbar als ein „normaler Familienvater“. Familie ist in unserer Gesellschaft unantastbar, sie hat einen sehr hohen Stellenwert. Wenn die sexualisierte Gewalt in der Familie thematisiert wird, dann zerbricht die Familie in der Regel. Man macht sie vermeintlich „kaputt“. Deshalb kommen die Fälle auch so selten zur Sprache, die Schwelle ist extrem hoch. Das Umfeld, Verwandte, Lehrerinnen, sie schrecken davor zurück, in diese Familie einzugreifen. Auch die Betroffenen haben es deshalb sehr schwer, etwas zu sagen.
Eine Art Schweigegelübde, auch für die Betroffenen?
Ja. Was Kinder und Jugendliche uns von Anfang an in der Beratung vermitteln: Die Gewalt soll aufhören, aber die Familie soll bleiben. Auch später plagen sie oft Schuldgefühle. Das ist ein Problem, das man nicht auflösen kann. Auch wenn man immer wieder vermittelt: Du bist nicht schuld. Schuld ist der Täter. Das Gefühl bleibt im Raum. Und das halten viele Betroffene und Unterstützer*innen nicht aus.
Katrin Schwedes, 47, Psychologin, leitet die Koordinierungsstelle der Fachberatungen, die zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend arbeiten. Sie ist auch im Vorstand der Hilfsorganisation Wildwasser e. V.
Und sagen lieber nichts.
Ja, vor allem zeigen sie nicht an. Gerade wenn es sich noch um Kinder oder Jugendliche handelt, wenn die Taten also noch nicht so lange her sind: für diese Kinder schafft eine Anzeige eine zusätzliche Belastung. Erst mit viel Abstand zur Familie, also wenn sie herausgenommen wurden oder wenn viel Zeit vergangen ist, dann entwickeln sie eher den Wunsch, anzuzeigen. Deshalb sind lange Verjährungsfristen so wichtig.
Wie gelangen die Kinder und Jugendlichen zu Ihnen in die Beratung?
Sie erzählen zum Beispiel einem Freund oder einer Freundin etwas. Wenn man Glück hat, redet die mit ihrer Mutter oder der Lehrerin, und die können dann mit einer Beratung darüber sprechen, was nun geschehen könnte.
Das heißt, LehrerInnen und ErzieherInnen sind unter Umständen lebenswichtig?
Ja. Und deshalb hoffe ich, dass das Ergebnis dieser Kommissionsarbeit sein wird, dass jegliches pädagogische Personal geschult wird.
Und die sollen dann Missbrauch aufdecken? Das ist aber anspruchsvoll.
Nein. Sie sollen gerade nicht Kriminologen spielen. Sie sollen sensibel sein und dann Kontakt mit den Fachleuten herstellen. Wir brauchen offene Ohren, die mit einer gewissen Unerschrockenheit das Thema wie andere auch behandeln: Bei dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch reagieren viele Menschen mit Angst und Überforderung. Ich hoffe, dass die Arbeit der Kommission dazu führt, dass diese große Angst, mit dem Thema nicht umgehen zu können, kleiner wird.
Woran merkt denn eine Lehrkraft, dass etwas mit einem Kind nicht in Ordnung ist?
Es gibt leider keine Checkliste, die man abhaken könnte. Man muss einfach gucken, wie das Kind wirkt, ob es sich verändert. Sich zurückzieht oder etwas reinszeniert, es kann ganz unterschiedlich sein. Aber wenn man dafür sensibel geworden ist, und das muss in Fortbildungen vermittelt werden, die es leider immer noch nicht flächendeckend gibt, dann kann man sich mit anderen LehrerInnen austauschen und unaufgeregt über das Thema reden. Und dann spricht man mit einer Beratungsstelle und lässt sich begleiten. Dann verliert sich diese Panik, entweder ein Kind in einer unerträglichen Lage alleinzulassen oder aber eben eine ungeheure Anschuldigung gegen ein Familienmitglied zu erheben. Das muss man eine Weile aushalten. Es ist wichtiger zu sehen, wie es dem Kind geht, als sich auf die Tat zu konzentrieren. Die Betroffenen wissen ganz gut, was sie sich wünschen. Man kann sich von ihnen leiten lassen.
Was müsste also die Bildungspolitik nun tun?
Man müsste die Präventionskonzepte, die es bereits gibt, in allen Kitas und Schulen einführen. Missbrauchs- und Gewaltprävention muss wie HIV-Prävention Teil des Curriculums sein. Die Erfahrung zeigt, dass Lehrkräfte, die sich so mit dem Thema auseinandergesetzt haben, dann auch nicht mehr so panisch sind, wenn ein Verdacht aufkommt. Das müssen wir radikal ausweiten. Und es muss Ansprechpartner geben. Jede weiterführende Schule hat einen Drogen- oder Gewaltbeauftragten. Auch für sexualisierte Gewalt muss es jemanden geben. Es ist verblüffend, dass auch nach all den Skandalen die Fachberatungen nicht ausreichend unterstützt werden. Da wären wir wieder beim Tabuthema Gewalt in der Familie. Das ist wie ein Stigma. Damit gewinnt man eben keine Wahlen.
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