Psychische Krisen am heiligen Abend: Weihnachten kommt das Trauma
Telefonseelsorge und Rückzugsräume sind Anlaufstellen für Menschen in akuten Krisensitationen. Über die Feiertage ist der Andrang besonders groß.
BREMEN taz | Dass Weihnachten naht, erkennt in den Rückzugsräumen in Bremen-Walle nur, wer ganz genau hinsieht. Eine Fensterbank im Gemeinschaftsraum ist mit hellbraunen Servietten ausgelegt, darauf ein kleines Gesteck mit Weihnachtskugeln. Einer der Übernachtungsgäste habe es dort hingelegt, erzählt der Leiter der Kriseneinrichtung, Hermann Tolle. Acht Betten stehen zur Verfügung. Wer sich in einer psychischen Krise befindet, kann den Abend und die Nacht dort verbringen.
Jedes Jahr vor Weihnachten rufen besonders viele Menschen an und fragen, ob sie an den Weihnachtstagen kommen können, haben Tolle und seine Mitarbeiter*innen beobachtet. Dabei sind sie kein Hotel, das Reservierungen annehmen kann, sondern ein ambulantes Hilfsangebot für Menschen, die in einer akuten Krise stecken. Über diese Frage streitet sich dessen Träger, die Gapsy, derzeit auch mit der AOK, der einzigen Kasse, die die Rückzugsräume in ihrer derzeitigen Ausstattung noch finanziert – jedenfalls bis zum Sommer.
Ob es über Weihnachten so voll wird, wie die Anrufe befürchten lassen, ist nicht gesagt. „Es gab Jahre, da war es pickepackevoll“, sagt Tolle, in anderen dagegen eher ruhig. „Wir verstehen das auch nicht und versuchen immer dahinterzukommen.“ Zum Beispiel, ob es einen Zusammenhang mit den Wochentagen gibt. Wenn Heiligabend etwa mitten in der Woche liegt und die Tage, an denen das öffentliche Leben brach liegt, kein Ende zu nehmen scheinen.
Denn vielen Menschen, die das Angebot in Walle nutzen, fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Sie haben weder Freund*innen noch Familie, manchmal ist eine psychische Erkrankung der Grund für ihre Isolation, manchmal ist es andersherum.
Hermann Tolle, Rückzugsräume
Es gibt Studien, die sagen, dass Menschen krank werden, wenn sie keinerlei Bindung haben. Um wenigstens ab und zu mit jemand reden zu können oder wenigstens das Gefühl zu haben, nicht alleine auf der Welt zu sein, gehen sie in Geschäfte, Bibliotheken, erzählt der Psychologe Tolle. „Wenn die an Weihnachten alle geschlossen haben, kann das zum Problem werden.“
Hinzu komme: Gerade an Weihnachten kämen Erinnerungen an traumatische Kindheitserlebnisse hoch, Gewalt, sexueller Missbrauch. Denn am Heiligen Abend versuchten auch die desolatesten Familien, den friedlichen Schein zu wahren und den Mythos vom Fest der Liebe zu pflegen. „Dann kommt die Oma und die Kinder müssen so tun, als wäre alles in Ordnung.“ Für Kinderseelen sei das pures Gift, sagt Tolle: „Ihre Gefühle werden umgangen.“
Deshalb haben sie in den Rückzugsräumen auch auf weihnachtliche Deko-Elemente verzichtet, bis auf das kleine Gesteck auf dem Sims. Wenn die ganze Stadt leuchtet und einem „X-MAS“ aus jedem Schaufenster entgegenschreit, soll es dort eine kleine Verschnaufpause geben.
„Weihnachten ist ziemlich spannungsgeladen“
Dass Weihnachten für allein lebende Menschen eine Herausforderung ist, um es mal ganz ressourcenorientiert auszudrücken – diese Erfahrung hat auch Daniel Tietjen gemacht. Er ist der Vorsitzende der Regionalkonferenz Nord, einem Zusammenschluss aller 16 Telefonseelsorgestellen in Norddeutschland. Da seien diejenigen, die schlechte Erinnerungen an die heiligen Tage haben und die anderen, bei denen akut die Hütte brennt, weil familiäre Konflikte aufbrechen. „Weihnachten ist ja ziemlich spannungsgeladen“, sagt Tietjen.
Auf der einen Seite der hohe Erwartungsdruck, alles möge wunderschön werden, auf der anderen Seite die Probleme, die in der Weihnachtszeit nicht verschwinden, sondern eher stärken werden, weil auch Familienmitglieder zusammenkommen, denen etwas mehr Abstand besser täte. „Weihnachten kommt einiges hoch.“
An Weihnachten versuchten besonders viele Menschen, die ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen zu erreichen, sagt Tietjen. Pro Telefonseelsorgestelle arbeiten etwa 70 Ehrenamtliche – aber am Telefon sitzen pro Schicht immer nur ein oder zwei. Tietjen bestätigt, dass es schwer ist, da jemanden an die Strippe zu bekommen. „Wir sind eigentlich ein Krisentelefon“, sagt er, aber immer mehr Menschen würden anrufen, einfach um mit jemand zu sprechen. „Das wird jedes Jahr ein Prozent mehr“, sagt Tietjen.
Im vergangenen Jahr sei in 16 Prozent aller Anrufe Einsamkeit der Grund des Anrufs gewesen. „Da müssen wir manchmal auch sagen, dass wir nicht weiter sprechen können, weil die Leitung wieder frei sein muss“ – für Menschen in einer akuten Notsituation und nicht einer chronischen.
Zugenommen hätte auch der Anteil von Gesprächen mit Menschen, die psychisch krank sind – wobei das Spektrum von der Depression, über Borderline und Psychosen bis zur Identitätsstörung reicht. In einem Viertel aller 10.000 jährlichen Anrufe bei der Telefonseelsorge Elbe-Weser hätten die Anrufer*innen von sich aus gesagt, psychisch krank zu sein. Es ist anzunehmen, dass dazu noch eine große Anzahl von Menschen kommt, die entweder nicht diagnostiziert sind oder nicht darüber sprechen wollen.
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