Psychische Erkrankungen: Weihnachtsgans for One
Die Nachfrage nach psychiatrischen Angeboten steigt. Die Weihnachtsfeiertage stellen für viele eine zusätzliche Belastung dar.
„Es herrscht großer sozialer Erwartungsdruck, fröhlich zu sein und gemeinsam mit anderen zu feiern“, sagt eine Sprecherin des Berliner Krisendiensts. Das erzeuge Stress, wodurch sich bestehende familiäre und Partnerschaftskonflikte zuspitzen können. Eine Sprecherin der Charité betont gegenüber der taz, dass Weihnachten für Personen mit psychiatrischen Krankheitsbildern eine Zeit sei, in der Einsamkeit und soziale Isolation oft noch stärker wahrgenommen würden.
Betroffene wollten deshalb die Feiertage häufig im Kreis der Familie verbringen, sagt sie. Von den nicht zwangseingewiesenen Patient*innen unterbrächen viele die stationäre Behandlung für die Weihnachtszeit. Andere blieben freiwillig.
Psychisch Erkrankte seien letztlich ein Abbild der Gesellschaft, sagt Michael Webers vom Vorstand des Vereins Kommrum, der betreutes Wohnen anbietet. „Manche Bewohner*innen feiern zu Hause, manche tauchen zu Weihnachten komplett ab, ziehen sich zurück und meiden den Kontakt“, berichtet er.
Beratungsstellen sind teils an den Feiertagen geöffnet
Daher, sagt Webers, brauche es an Feiertagen Angebote für Personen mit mentalen Belastungen. „Psychisch Erkrankte haben an den Weihnachtstagen die gleichen Wünsche und Bedürfnisse wie alle anderen auch.“ Bei Kommrum gibt es deshalb Angebote wie die Weihnachtscafés.
Hilfesuchende können auch online Kontakt zu Beratungsstellen aufnehmen, etwa bei der Kontaktstelle Krisenchat. Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen, darunter der Krisendienst, sind darüber hinaus an den Feiertagen zumindest zeitweise geöffnet.
Den Krisendienst lobt Michael Webers von Kommrum als eine „einmalige Einrichtung“. Vergleichbares gebe es in anderen Bundesländern kaum. Man könne stolz sein auf das Angebot in Berlin. Es sei breit gefächert und gut verzahnt. „Aber diese Strukturen haben ihre Grenzen.“
Stationäre oder ambulante Einrichtungen, Tageskliniken, Privatkliniken oder niedergelassene Psychotherapeut*innen – sie sind alle voll ausgelastet. Die Wartezeiten sind lang, die Stationen und Kliniken oft überbelegt.
Hohe Nachfrage, zu wenig Angebote
Dabei ist die Versorgungslage mit Psychotherapeut*innen in Berlin verhältnismäßig gut. Mit 63,4 Psychotherapeut*innen pro 100.000 Einwohner*innen weist die Hauptstadt bundesweit die höchste Versorgungsdichte bei der psychotherapeutischen Versorgung auf. In Mecklenburg-Vorpommern etwa liegt sie bei 16,4.
In Berlin besteht jedoch auch eine höhere Nachfrage. Berlin sei ein Sammelbecken für Menschen, die die Nischen der Großstadt suchten, weil sie mit ihren Besonderheiten woanders nicht zurechtgekommen seien, sagt Webers.
Die Versorgung reicht dann auch vorn und hinten nicht, der Bedarf an Therapeut*innen steigt stetig, der Mangel an Behandlungsplätzen verschärft sich. In allen Bezirken gebe es einen höheren Bedarf als Angebote, so Webers. Hilfesuchende müssen in Berlin im Schnitt fast 40 Tage auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch warten. Die Wartezeiten bis zum Psychotherapiebeginn betragen durchschnittlich 3 Monate.
Das liege Weber zufolge vor allem am Fachkräftemangel und an der Wohnungsnot. Auch für das betreute Wohnen von Kommrum gebe es lange Wartelisten, erzählt er. Hilfebedürftige mit eigenem Wohnraum könnten zwar meist innerhalb von 4 Wochen aufgenommen werden. Für Menschen ohne Wohnraum liegen die Wartezeiten aber bei mehreren Monaten bis hin zu einem Jahr. So lange bleiben dann auch die psychischen Erkrankungen unbehandelt.
„Man kriegt die Leute nicht raus“
Was die Lage nicht einfacher macht: Viele Hilfebedürftige kämen aus der Obdachlosigkeit und wollten nach einer Verbesserung ihres Zustandes nicht wohnungslos werden: „Man kriegt die Leute nicht raus, sogar wenn es ihnen gut geht“, sagt Webers. Bürokratische Prozesse, fragmentierte Gesetzgebungen und mangelnde Finanzierung kommen obendrauf.
Mehrfach marginalisierte Betroffenengruppen fänden nur schwer den Weg in das Versorgungssystem, berichtet eine Sprecherin des Krisendienstes. Wohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen oder auch traumatisierte Menschen mit Fluchterfahrung würden dabei häufig nicht erreicht.
Der Krisendienst und Kommrum fordern daher, den Zugang zu niedrigschwelligen Angeboten so einfach wie möglich zu gestalten. Dazu gehören psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen ebenso wie solche für Alkohol- und Medikamentenabhängige.
Das Problem liegt im System: Für eine Behandlung muss man krankenversichert sein, man braucht eine ärztliche Diagnose, eine Begutachtung, muss einen Antrag stellen und vieles mehr. Im besten Fall solle der Zugang aber anonym und ohne ärztliche Diagnose ermöglicht werden, findet Michael Webers. An eine zeitnahe Reform der Sozialgesetzgebung glaubt er jedoch nicht: „Das ist Zukunftsvision. Das werde ich in meinem Arbeitsleben nicht mehr erleben.“
Bewusstsein für Einsamkeit und deren Folgen
Krisenprofis wie Webers fordern darüber hinaus eine Entbürokratisierung der Mittelverwaltung und eine verlässliche Ausfinanzierung der sozialpsychiatrischen Pflichtversorgung. Die bestehende Zuwendungspraxis sei katastrophal, sagt Webers. „Es kann nicht sein, dass wir das jedes Jahr neu mit dem Senat, dem Staatssekretär und einem Gesundheitsstadtrat aushandeln müssen.“ Das sei „keine vernünftige Arbeitsgrundlage“ und gebe ihm keine langfristige Planungssicherheit.
Vielmehr brauche es eine umfassende Unterstützung für ganzheitliche Ansätze, die von Prävention über niedrigschwellige Beratung bis hin zu mehr psychotherapeutischen Plätzen und kürzeren Wartezeiten in psychiatrischen Praxen reichen, fordert etwa Krisenchat.
Nötig sei auch ein stärkeres gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für Einsamkeit und deren Folgen. „Wir müssen raus aus unserer Denkweise der Institution. Wir müssen uns sozialräumlich organisieren“, sagt Michael Webers. Es müssten mehr ehrenamtliche Angebote geschaffen werden, um einsame Menschen in ihrer Nachbarschaft stärker zu integrieren, findet auch der Krisendienst.
Konkret für die Feiertage empfiehlt der Krisendienst ein gezieltes „Erwartungsmanagement“, um präventiv einer Krise bei psychisch belasteten Menschen entgegenzuwirken. Es könne helfen, sich zu fragen, wie das Fest in den letzten Jahren verlief, was gut funktioniert habe oder was getan werden könne, damit die Stimmung nicht kippt oder Betroffene rückfällig werden.
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