Psychische Erkrankungen: Wenn die Seele streikt
Psychisch bedingte Arbeitsausfälle haben seit 2003 um 51 Prozent zugenommen. Besonders betroffen ist der Norden, Hamburg ist Spitzenreiter. Ursachenforschung beginnt gerade erst.
Der Anteil der Krankheitstage, die auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind, steigt an. Hamburg liegt hier um rund 46 Prozent über dem Bundesdurchschnitt; das ergeben aktuelle Gesundheitsreports der Krankenkassen. Auch in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern hat der Anteil psychisch bedingter Krankschreibungen am gesamten Krankenstand um jeweils einen Prozentpunkt zugenommen.
Die Gründe für die Hamburger Extremwerte sind unklar: Einige sagen, es liege am Stadt-Land-Gefälle, sprich: an der höheren Bereitschaft des Großstädters, sich zu psychischen Problemen zu bekennen. "Die psychischen Störungen müssen nicht zwangsläufig zugenommen haben", sagt Michaela Hombrecher, Sprecherin der Techniker Krankenkasse (TK). "Aber heute hat man Begriffe dafür." Andererseits seien auch Allgemeinärzte sensibler geworden für Angststörungen und Depressionen, die zu den häufigsten psychischen Erkrankungen zählen.
Fest steht indes, dass arbeitsbedingte psychische Erkrankungen zwischen 2003 und 2008 dem Gesundheitsreport der Barmer Ersatzkasse (BEK) zufolge bundesweit um 51 Prozent zugenommen haben. Von 153 auf 186 Millionen Euro ist parallel das Krankengeld der BEK hierfür gestiegen. "Dazu kommen oft lange stationäre Aufenthalte, bei denen kaum etwas passiert, so dass wir inzwischen ambulante Wiedereingliederungsangebote anbieten", sagt TK-Sprecherin Hombrecher.
Doch mit der Kostendämpfung ist es auch für die Firmen nicht mehr getan: Fehltage bedeuten Produktionsausfälle, und mit der altbackenen Floskel des "Sich-Zusammennehmens" kommt niemand mehr weit. "Immer mehr Firmen wollen die Ursachen klären, zumal sie wissen, dass ihnen in 15 Jahren demografiebedingt Fachkräfte fehlen werden", sagt Hombrecher. "Sie wollen die Produktivität ihrer Mitarbeiter erhalten."
ArbeitnehmerInnen in Callcentern, im Sozial- und Security-Bereich und an der Supermarkt-Kasse führen die Liste psychisch bedingter Fehlzeiten an. Doch auf spartenbedingte Stressfaktoren allein lässt sich das Problem nicht reduzieren. In etlichen Branchen "herrscht keine Kultur der Wertschätzung", sagt Werner Fürstenberg, Leiter des gleichnamigen Hamburger Instituts, das Firmen mit dem Coaching ihrer Mitarbeiter beauftragen können. Eine Marktnische, zumal das betriebliche Gesundheitsmanagement, das die Kassen den Unternehmen anbieten, noch in den Anfängen steckt.
Der Bedarf steigt derweil deutlich: Kamen 2000 noch acht Prozent der Klienten wegen Arbeitsplatzproblemen ins Fürstenberg-Institut, sind es inzwischen 30 Prozent. Nur die Hälfte von ihnen sei konkret von Entlassung bedroht, "der Rest leidet unter allgemeinen Existenzängsten sowie unter Schwierigkeiten mit Vorgesetzten oder Mitarbeitern", sagt Fürstenberg.
Solche Ängste seien aber völlig normal und keine Krankheit. "Die Mitarbeiter müssen einfach lernen, mit der größeren Arbeitsdichte und Unsicherheit umzugehen", sagt er. Andererseits seien die Unternehmen verpflichtet, den Mitarbeitern respektvoll zu begegnen. "Das tun derzeit rund zehn Prozent der Unternehmen", sagt Fürstenberg.
Dabei will er gar keine Steine werfen. "Manager, die Leute abwickeln, stehen selbst unter Druck und sehen die emotionalen und sozialen Folgen ihrer Entscheidungen nicht." Wenn man ihnen das erkläre, verstünden sie es auch.
Schwieriger liege der Fall dort, wo Mitarbeiter permanentem psychischem Druck ausgesetzt seien - Hauptgrund für die langen Fehlzeiten. Wenn schwierige Vorgesetzte die Ursache seien, versuche man ein Bewusstsein für die "Ressource Mitarbeiter" zu wecken. "Wenn uns ein Vorstand aber sagt, dass ein cholerischer Chef ruhig 20 Untergebene pro Jahr verbrennen darf, solange er nur die Rendite bringt, wird es schwierig", sagt Fürstenberg. Was die Einsichtsquote in diesem Punkt betrifft, hegt er kaum Illusionen. "Da herrscht im Management genauso wenig Weitsicht wie in der Politik."
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