Psychiatrie in Griechenland: Verrückt ist völlig okay

Die psychiatrische Versorgung ist vielerorts mit der Krise kollabiert. Gut so, findet das Observatorium für Menschenrechte in der Psychiatrie.

Der griechische Künstler Giorgos Aggelidis ist Psychiatriebetroffener – er zeichnet seine Empfindungen Illustration: Giorgos Aggelidis

THESSALONIKI taz | Dimitris Hatzivasileiadis hört Stimmen, und diese Stimmen sind seine Freunde. „Ich unterhalte mich mit ihnen, sie sind ein Teil von mir.“ Das war früher anders. Er war 21 Jahre alt, als sie zu reden begannen. Er fürchtete sie, rastete aus. „Meine Familie ließ mich in eine Klinik einweisen, die Polizei kam zu uns ins Haus. Manche Leute haben sich das Maul zerrissen.“ Er kam in eine psychiatrische Einrichtung – „als ich wieder nach Hause kam, war ich abhängig von Medikamenten und meinem Doktor“. Die Standardprozedur: Psychopharmaka in hohen Dosen statt therapeutischer Hilfe.

Dimitris Hatzivasileiadis sitzt bei einem türkischen Mokka im „Palermo“ mitten in Thessaloniki. Sein Lieblingscafé. Swingmusik tönt aus den Lautsprechern, wie in Setzkästen reihen sich Sammlerstücke in Glasvi­trinen. Als sich Hatzivasileiadis ein Zigarillo anzündet, leuchtet ein Delfin aus Muranoglas auf. Der 35-Jährige hat wuscheliges, schwarzes Haar, er wählt seine Worte bedächtig, sein Blick ist konzentriert. Fotografiert werden möchte er nicht.

Menschen wie Hatzivasileia­dis sind Opfer der griechischen Krise. Alleingelassen vom Staat und einem Teil der Ärzte, seit 2010. Die Zahl der psychosozial Versorgten hat sich landesweit mehr als halbiert. Projekte für betreutes Wohnen wurden von heute auf morgen geschlossen, psychiatrische Abteilungen in Krankenhäusern dichtgemacht oder radikal zusammengestrichen. Außerstationäre Einrichtungen fangen nur einen Bruchteil der Entlassenen auf.

Geld fehlt – für alles

Hatzivasileiadis hatte Glück und traf auf einen Athener Psychologen, der ihm mit mehr helfen wollte als nur mit einem Rezept. Er empfahl ihm das Observatorium für Menschenrechte in der Psychiatrie, und Hatzivasileia­dis begann, die gängige Praxis der Psychiatrie infrage zu stellen. In dem Observatorium organisieren sich seit 2002 PsychologInnen, Betroffenene und Angehörige. Sie wollen Öffentlichkeit schaffen. Öffentlichkeit für alle, die mit psychischen Schwierigkeiten konfrontiert sind, die Zwangsmaßnahmen ablehnen oder sich in einer Notsituation befinden, aber nicht in die Psychiatrie eingeliefert werden wollen. Das Observatorium ist als Verein einer dieser vielen Minileuchttürme in der griechi­schen Krise. Etwa 50 Menschen sind in ihm zusammengeschlossen.

Wer kann, und das können in der Griechenland nicht alle, spendet viermal im Jahr zehn Euro. Ein eigener, dringend benötigter Raum für Versammlungen und Büroarbeit ist trotzdem nicht drin, obwohl Gewerberäume vergleichsweise billig sind. Deshalb kommt das Observatorium im Mikropolis unter, einem selbstverwalteten Gebäude, das sich durch eine Kneipe finanziert und allen offensteht.

Wer für das Observatorium spenden möchte:

ΙΒΑΝ: GR3001722280005228070162961BIC: PIRBGRAAPiräus BankKontoinhaber: Stamatakos Verwendungszweck: Spende Observatorium D

Etwa 60 Betroffene treffen sich in Gruppen, sprechen über Stimmen, die sie hören, Psychosen, tiefe Traurigkeit und das Absetzen von Psychopharmaka. Juristische Hilfe bekommt, wer sie braucht. „Wir wollen dafür Verständnis schaffen“, sagt Dimi­tris Hatzivasileiadis, dass auch starke Konflikte ohne Psychiatrie bewältigt werden können.“ Der Mann, der einst mit den Stimmen in seinem Kopf kämpfte, will anderen, denen es ebenso geht, eine Stimme geben.

Mit Hilfe des Observatoriums reduzierte Hatzivasileia­dis langsam seine Psychopharmaka. Mittlerweile leitet er eine Gruppe von StimmenhörerInnen und kümmert sich um die Telefonhotline. „Früher war ich abgefüllt mit Medikamenten, gedimmt von ihren Wirkstoffen, fast handlungsunfähig. Heute kann ich wieder frei sprechen, mich selbstständig organisieren.“

Aus seiner dunklen Umhängetasche zieht er eine Zeitung, vier Seiten, schwarz-weiß gedruckt. Es ist seine Zeitung. Auf Deutsch heißt sie „Sonnensturm“. „Wahrscheinlich gäbe es Ilio­petra nicht, wäre ich nicht zum Observatorium gestoßen“, sagt Hatzivasileiadis. In seiner Heimat Naousa, einer kleinen Stadt, rund 80 Kilometer von Thessaloniki entfernt, hat er die Zeitung gegründet; gemeinsam mit fünf KollegInnen berichtet er über Politik, Kultur „und Aufbruch“.

Desolate Versorgung

Anna Emmanouilidou stößt im Café Palermo dazu. Sie ist eine der Gründerinnen des Observatoriums. Die promovierte Diplompsychologin spricht fließend Deutsch: Neun Jahre lang hat sie in einer Psychiatrie in Süddeutschland gearbeitet. „Alles wirkt dort perfekt und auf die Patienten zugeschnitten. Aber auch in Deutschland wird immer noch extrem viel zwangsmedikamentiert.“ Hauptberuf­lich arbeitet die zierliche, energisch wirkende Psychotherapeutin, als Krisenberaterin in einem der vier staatlichen Zentren für Psychische Gesundheit in Thessaloniki.

Am nächsten Tag sitzt sie dort in ihrem bescheiden möblierten Büro mit Blick aufs Meer. Das staatliche Zentrum sollte mehrmals geschlossen werden – eine Anordnung aus Brüssel, die der griechische Staat aber nicht umsetzt. „Was sollte er damit auch bezwecken? Die Situation unseres gesamten psychosozialen Systems ist desolat“, sagt Emmanouilidou.

Die Krise zerstört ein bevormundendes System, von dem sich viele wünschten, dass es kaputt geht

Die Zahl betroffener Familien ist rasant gestiegen, die wenigen Mitarbeiter reichen nicht aus. Zehn fertig ausgebildete Therapeuten unterstützen das Team inzwischen, unentgeltlich. „Es ist paradox, es ist eine Verrücktheit – seit der Krise ist ein psychosoziales System am Zusammenbrechen, von dem sich Engagierte wie wir schon lange wünschten, dass es in dieser die Menschen bevormundenden Form kaputt geht.“

Zurück ins Jahr 1984: Damals bekam Griechenland als Beitrittspartner der damaligen EWG Direktiven zur Modernisierung seiner Psychiatrie. Tausende als psychisch krank geltende Menschen vegetierten eher, als dass sie in den ärmlichen staatlichen Asylen lebten. Binnen kürzester Zeit installierte der Staat eine neue psychosoziale Versorgung nach europäischen Vorgaben.

„Unsere Gesellschaft“, sagt Emmanouilidou, „war Vorurteilen von der Gefährlichkeit psychischer Erkrankungen tief verhaftet.“ Der Umbau sei oft unter Druck passiert – Profis und die Gesellschaft als Ganzes hätten „wenig Selbstwertgefühl mitgebracht gegenüber unseren fortgeschrittenen und reichen europäischen Partnern“.

Was kann die Familie tun?

Zwischen 1985 und 2000 schlossen in diesem Land mit elf Millionen Einwohnern fünf große staatliche Psychiatrien, verbesserten sich Gesetze zur psychischen Gesundheit, entstanden über 3.000 betreute Wohnplätze und 250 neue sozialpsychiatrische Dienste. Die Idee, Institutionen aufzubrechen und isolierte, psychisch leidende MitbürgerInnen zu integrieren, schien verwirklicht.

Doch, so sieht es zumindest ­Emmanouilidou: „Letztlich brachte uns der Weg in die EU von einer inhumanen, repressiven Wohlfahrtslogik zu einer human-repressiven Wohlfahrtslogik.“ Die Gebäude, die Ausstattung, die Personalschulung: alles war besser geworden. „Doch die angeblich notwendige Zwangsmedikation, die Meinung, dass ‚psychisch Kranke‘ unfähig seien, ihr ­Leben in den Griff zu bekommen – das alles wurde im Grunde wie auch fast überall sonst in Europa bis heute nicht infrage gestellt.“

Anna Emmanouilidou, Psychologin und Mitgründerin des Observatoriums Foto: Achilleas Chiras

Penny, 43 Jahre alt, will ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Sie hat einen vier Jahre jüngeren Bruder. Er ist schizophren. „Was können wir als Familie tun, wie können wir meinem Bruder, aber auch uns helfen?“, fragte sich die Marketingfachfrau schon bald nach der Diagnose. Fragte sie im Krankenhaus, ging es stets nur um passende Medikamente. Eine passende Tagesbetreuung fand die Familie nicht.

Penny ist eine der Leiterinnen des „Psychoseseminars“, das das Observatorium einmal wöchentlich veranstaltet. „Ich will meinen Bruder nicht im Stich lassen – die Gruppe hilft mir dabei.“ Er selbst nimmt nicht an den Treffen teil. Leugnet seine Probleme bis heute. Erst seit Penny ihre Erfahrungen in der Gruppe teilt, fühlt sie sich zuversichtlicher, geborgener. „Wir schaffen hier Wissen für uns alle.“ Ihr Bruder, sagt sie, habe das Recht, zu denken, wie und was er will. „Aber seine Geschichte ist Teil unserer Fami­liengeschichte. Auch wenn er das verneint.“

Wer dem Observatorium nahesteht, spricht nicht von psychisch kranken Menschen. „Für uns“, sagt Penny „sind es Menschen, die schwer leiden, die aber nicht unheilbar krank sind oder eine angeborene, unveränderbare Verletzlichkeit haben.“

Die Krise: eine Chance

Vom griechischen Staat erwarten sie nichts mehr. Anna Emmanouilidou ist wütend, als sie den Flur im Zentrum für Psychische Gesundheit entlang der bunten Wimmelbilder geht. Der Staat sei ethisch verelendet und habe sich dem Ausverkauf preisgegeben, meint sie. „Entweder dominieren heute wieder tra­ditionelle psychiatrische Konzepte, oder es gibt gar keine ­psychosoziale Versorgung mehr.“

Zwar lebten Menschen mit psychischen Problemen und Psychiatrieerfahrung inzwischen inmitten der griechischen Gesellschaft – „und die hat sich wenigstens meist daran gewöhnt“. Aber genau das reiche nicht aus, sagt Emmanouilidou: „Wir als Observatorium sind das Kapital, wir müssen noch stärker unsere Erfahrung, unser praktisches Wissen nutzen.“ Die klamme Situation: eine kreative Chance. „Wenn der Staat keine Versorgung anbieten kann, fordert er auch in Zukunft keinen Gehorsam.“

Im Café Palermo hat sich Dimitris Hatzivasileiadis, der Stimmenhörer, zwischen Nippes und Swing noch einen Mokka bestellt und ein Zigarillo angesteckt. „Dass ich in Gemeinschaft wieder sagen kann, was ich fühle, ohne dass es gleich bewertet und medikamentiert wird – das tut mir gut.“

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