Psychiatrie auf Augenhöhe: Irre

Das Bewusstsein ist fortgeschritten, die Praxis hinkt hinterher – weil die Kosten schwer abzurechnen sind. Dabei hat jeder Dritte zumindest einmal psychische Probleme.

Während seiner Zeit in der Göttinger Psychiatrie malte der Patient Julius Klingebiel seine Zelle aus. Inzwischen gilt die Zelle als Kunstobjekt. Foto: Andreas Spengler/dpa

BREMEN taz | Mit finsteren „Irrenhäusern“ hat die moderne Psychiatrie kaum noch etwas gemein. Doch auch wenn heute die Heilung im Mittelpunkt steht und nicht das Wegschließen vermeintlich gefährlicher Wahnsinniger, ist ihre gesellschaftliche Ausgrenzung nicht überwunden. Die Mauer seien nur unsichtbar geworden, sagen Betroffene. Auch ÄrztInnen und Pflegekräfte beklagen die Stagnation der seit 40 Jahren laufenden Reformen. Psychiatrie-Verbände fürchten gar, dass zentrale Errungenschaften erneut auf dem Spiel stehen – aus Kostengründen.

So wird kommende Woche auf dem „Welttag der Seelischen Gesundheit“ am 10. Oktober nicht nur für Akzeptanz von Krankheit und seelische Krisen geworben, sondern in vielen Veranstaltungen auch scharfe Kritik an der herrschenden Gesundheitspolitik laut. Gastgeberstädte der „Woche der Seelischen Gesundheit“ sind im Norden diesmal Lübeck, Stade, Rostock und Bremen. Ausgerichtet werden die Informations- und Kulturveranstaltungen zumeist von den Kliniken, inhaltlich gestaltet werden sie aber auch von Psychiatrieerfahrenen selbst.

Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Dass es heute eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Als die Psychiatriereform 1975 begann, hätte sich wohl kaum ein Arzt darauf eingelassen. Auch die damals auf ihrem Höhepunkt befindliche Antipsychiatriebewegung war kaum versöhnlicher gestimmt. Heute werden Betroffene vielerorts in die therapeutische Arbeit eingebunden und sind in unabhängigen Besuchskommissionen daran beteiligt, geschlossene Stationen zu kontrollieren.

Missstände gibt es freilich auch heute noch. Doch das Problembewusstsein vieler Entscheider hat sich geändert – und auch rechtlich haben sich die UN-Behindertenrechtskonvention und das Grundgesetz als wirksame Schranken erwiesen. Zumindest der Anspruch besteht, es gut zu machen. Nur ist das bei Personalknappheit und Spardiktat gar nicht einfach umzusetzen.

Das Problem liegt bei maßgeblich von den Krankenkassen konstruierten Sachzwängen. Es geht ums Geld. Genauer gesagt um die Frage, wie die Kliniken ihre Leistungen mit den Kassen abrechnen. Anders als in der Somatik ist der notwendige Aufwand nicht messbar, weil er nicht an der Diagnose sondern am Betreuungsaufwand hängt. Für eine Blinddarmentzündung gibt es eine Fallpauschale, für gebrochene Beine eine andere. In der Psychiatrie hingegen zählen aus guten Gründen die Behandlungstage.

Falsche Anreize durch Pepp?

Die anstehende Neuregelung wird das zumindest aufweichen. Strittig ist dabei das geplante Entgelte-System namens „Pepp“ – „Pauschalierendes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“. Es gebe falsche Anreize, so die Kritik: Es werde sich künftig rechnen, PatientInnen möglichst früh zu entlassen und an der eigentlich besonders wichtigen persönlichen Zuwendung und der langsamen Einbeziehung des Alltags außerhalb der Kliniken zu sparen. Außerdem lohnt sich die Betreuung Schwerkranker unter Pepp erheblich weniger als die Aufnahme leichter Fälle auf entsprechend lukrativen Spezialstationen.

Diese Trennung spiegelt sich auch in der gesellschaftlichen Akzeptanz psychischer Erkrankungen. So ist die Rede von der „Modediagnose Burnout” ins Positive gewendet eher ein Aufruf, sich mal eine Auszeit zu gönnen. Gleichzeitig aber fühlen sich Schwerkranke ausgestoßen und stigmatisiert.

Es sind ausgerechnet die einst gegen zähe Widerstände erstrittenen Betreuungsstandards, die sich heute ins Gegenteil kehren: Denn der Mehrarbeit durch persönliche Betreuung und ausführliche Dokumentation kann dank dem Stellenabbau der vergangenen Jahre niemand mehr gerecht werden. So bleibt vor allem der am wenigsten messbare Bereich auf der Strecke: die Zuwendung.

Bei der „Woche der Seelischen Gesundheit“ läuft in Rostock auch die zehnte Ausgabe des Filmfests „Ab’gedreht”, das Filme über psychisch Erkrankte zeigt und zur Diskussion stellt. Auch in Bremen wird thematisiert, wie das Bild psychischer Erkrankungen vom Unterhaltungsfernsehen beeinflusst wird. Ein weiterer Schwerpunkt der diesjährigen Aktionswoche ist der Umgang mit den Flüchtlingen – insbesondere mit den unbegleiteten Minderjährigen. Denn deren Betreuung stellt die psychiatrische Infrastruktur gleich vor ein doppeltes Problem: Die große Zahl teils schwerst Traumatisierter zum einen – und zum anderen, dass sie in der Fremde und von Abschiebung bedroht gar keine gesunde Lebenswelt haben, in die man sie eingliedern könnte.

Seelische Erkankungen sind kein Nischenproblem

Doch seelische Erkrankungen sind kein Nischenproblem: Jeder dritte Mensch erleidet im Laufe seines Lebens wenigstens eine seelische Krise, hat das Robert-Koch-Institut erhoben. So geht es bei der Verbesserung der Psychiatrie auch um handfeste gesellschaftliche Interessen: Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der aus psychischen Gründen Krankgeschriebenen fast verdoppelt. Bei den Frühberentungen sind psychische Erkrankungen die am weitesten verbreitete Ursache. Schon vor einigen Jahren hat die Bundesregierung die Belastung der Volkswirtschaft aufgrund psychischer Störungen auf rund 70 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung geschätzt.

Und wenn es dann letztlich ökonomische Gründe sein sollten, die Menschenrechte psychisch Erkrankter nicht aufzugeben – dann ist das besser als nichts.

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