Psychiater über geschlossene Anstalten: „Psychisch Kranke sollten als Bürger gesehen werden“
Vor 40 Jahren entstand die „Blaue Karawane“ als Protestbewegung gegen stationäre Psychiatrien. Klaus Pramann, heute Psychiater, war damals dabei.

taz: Herr Pramann, warum ist es wichtig, psychisch Kranke in die Gesellschaft zu integrieren?
Klaus Pramann: Eine Gesellschaft, die sich nicht um ihre Ränder kümmert und sie zum Teil der eigenen Kultur und Politik macht, ist eine undemokratische Gesellschaft. Die Abhängigkeit der Kranken beim Leben in den Wohnheimen ist gegen den Geist des Grundgesetzes.
taz: Sie selbst waren in den 80er-Jahren bei der Auflösung der stationären Psychiatrie im Kloster Blankenburg dabei. Wie war das für Sie?
Pramann: Das war die Wende meines Lebens. Ich habe viele Erfahrungen in klinischen Psychiatrien und mir braucht kein Mensch zu erzählen, dass psychiatrische Kliniken als Zentrum für eine Versorgung notwendig sind. Das ist Mist. Teil des Programms zu sein, eine Verwahrklinik tatsächlich aufzulösen, hat mich nachhaltig beeinflusst.
taz: Durch das Programm entstand der Verein „Blaue Karawane“?
Pramann: Das war 1985 im Zuge der Auflösung der Klinik in Blankenburg. Die „Karawane“ war damals ein Protest gegen die Form der stationären Psychiatrie. Ziel war die Auflösung der überkommenen, alten, aber auch der modernisierten psychiatrischen Kliniken.
taz: Was macht die „Blaue Karawane“ anders?
Pramann: Sie bietet Menschen eine alternative Form des Zusammenlebens. In unseren Wohnprojekten leben unter anderem Menschen mit betreuungsbedürftiger Beeinträchtigung und finanziell Abhängige zusammen. Die Projekte sind trägerlos, wodurch keine totale Abhängigkeit besteht. Gewöhnliche Heime und Betreuungseinrichtungen sind Wohnungsgeber, Nahrungsgeber und Betreuungsgeber, wodurch die Selbstbestimmung stark eingeschränkt ist. Bei uns hat jeder das volle Recht, selbst über sich und die Hilfe, die man annehmen möchte, zu bestimmen. Es ist eher ein nachbarschaftliches Zusammenleben.
taz: Bietet die „Blaue Karawane“ darüber hinaus noch weitere Integrationsmöglichkeiten?
Pramann: Ja, ganz viele. Zum Beispiel die blaue Manege. Das ist ein Ort, an dem Menschen gemeinsame Projekte entwickeln können. Und das sowohl mit Leuten, die in den Wohnprojekten leben, als auch welchen von außerhalb. So entsteht Kontakt nach außen und besonders die Nachbarschaft wird gestärkt.
Die Filmvorstellung
Dokumentarfilm „Rückkehr aus dem Niemandsland“ über die Auflösung der psychiatrischen Langzeitklinik im Kloster Blankenburg, 14. 8., 18 Uhr, Haus im Park, Bremen. Eintritt frei.
taz: Sind die Probleme des psychiatrischen Systems von damals auch noch heute zu sehen?
Pramann: Ja, eindeutig. Es ist graduell ein bisschen besser, es gibt mehr Ambulanz als damals, aber das ist mehr ergänzend zu bestehenden zentralen Psychiatrien.
taz: Kann ein Klinikaufenthalt für manche psychisch Kranke trotzdem das Richtige sein?
Pramann: Ich bin da sehr skeptisch. Ein Mensch ist in der stationären Therapie ein ganz anderer. Man hat einen Menschen vor sich, dessen Not anders aussieht, als wenn man denjenigen in der Praxis oder bei sich zu Hause antrifft. Das sind völlig verschiedene Situationen. Zurzeit führt leider manchmal kein Weg daran vorbei, Menschen in die Klinik zu schicken.
taz: Haben Sie Wünsche an die Politik?
Pramann: Dass sich die verschiedenen Ressorts Gesundheit, Soziales, Inneres und Kultur zusammensetzen. Es muss gemeinsam ein Plan entwickelt werden, der Inklusion als Zielrichtung ernstnimmt. Die psychisch Kranken sollten als Bürger gesehen werden, die auch Teil der Kultur sind. Um Inklusion zu verwirklichen, muss eine inklusive Gesellschaft gestaltet werden. Das kann die Psychiatrie nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump setzt Museen Frist
Vorbei mit der Freiheit
Kürzungsdebatte im Sozialbereich
Und eure Lösung, liebe Linke?
1.265 Tage Krieg in der Ukraine
Plötzlich Soldat
Russland und Ukraine
Ukrainische Gebietsabtretungen im Tausch für Frieden?
Die Wahrheit
Dämonendinner
100 Tage Merz-Regierung
Kein Rezept gegen rechts