Psychiater über Prozess um Klinikmorde: Mörderischer Kostendruck
Mindestens 89 Patienten hat Pfleger Niels Högel getötet. Nun standen seine Vorgesetzten vor Gericht. Psychiater Karl H. Beine über Fehler im System.
Oldenburg, Weser-Ems-Halle, gerade ist in einem der Festsäle dieses Hallenkomplexes ein wichtiger Strafprozess zu Ende gegangen. Das fünfte Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der monströsen Mordserie des Krankenpflegers Niels Högel, der zwischen 1999 und 2005 an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst mindestens 89 Patient*innen ermordet hat. In vier Prozessen wurde er mehrfach zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.
Vier Prozesse, weil durch neue Ermittlungen immer mehr Todesfälle bekannt wurden, die mit Högel in Zusammenhang stehen könnten. Im Rahmen der Ermittlungen der Soko „Kardio“ wurden seit 2014 auf Dutzenden Friedhöfen 134 Leichen exhumiert, um sie auf Rückstände der Medikamente zu untersuchen, mit denen Högel gemordet hat. 130 weitere seiner potenziellen Opfer waren feuerbestattet worden. Es wird ungeklärt bleiben, ob auch sie durch Högels Manipulationen gestorben sind.
Nun waren seit Februar 2022 sieben seiner ehemaligen Vorgesetzten in Oldenburg und Delmenhorst angeklagt – wegen Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen. Darunter der ehemalige Chefarzt der Herzchirurgie, die Pflegedienstleiterin und der damalige Geschäftsführer des Klinikums Oldenburg. Begleitet wurde der Prozess von 18 Strafverteidigern, Strafkammer und Staatsanwaltschaft. Das Landgericht Oldenburg hatte extra eine Außenstelle dafür eingerichtet, in dieser Halle, in der sonst Abibälle stattfinden, Konzerte, ursprünglich vor allem Viehauktionen.
17 Jahre nach dem letzten Mord Högels im Klinikum Delmenhorst ist die juristische Aufarbeitung dieser beispiellosen Mordserie mit diesem Prozess beendet worden. Alle Angeklagten wurden freigesprochen, weil man ihnen nicht nachweisen konnte, dass sie von Högels Taten wussten und dennoch nichts dagegen unternahmen. Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen setzt Vorsatz voraus, der konnte ihnen nicht nachgewiesen werden.
An den 29 Verhandlungstagen immer mit im Zuschauerraum: Karl H. Beine, bis 2021 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke. Beine erforscht Mordserien an Krankenhäusern. Nach dem Freispruch sprechen wir in einem Hotel gegenüber der Weser-Ems-Halle über mordende Pfleger, das beschädigte Gesundheitssystem in Deutschland und über die Bedeutung dieses Prozesses.
taz am wochenende: Herr Beine, seit Februar haben wir uns immer wieder in diesem Saal getroffen. Das Verfahren gegen Högels frühere Vorgesetzte ist der Schlusspunkt für die Aufarbeitung der Mordserie. Wie wichtig war dieser Prozess aus Ihrer Sicht?
Karl H. Beine: Es war das erste Mal, dass in Deutschland ein Prozess gegen Verantwortliche geführt wurde, in deren Bereich solche Tötungsserien geschehen sind. Ich halte es für fundamental wichtig, dass er stattgefunden hat, weil damit klar geworden ist, dass persönliche Verantwortung für die Sicherheit der Patienten auf keiner Hierarchieebene delegierbar ist. Das fängt bei den unmittelbaren patientennahen Berufsgruppen an, Pflegern und Ärzten, und endet – das sage ich mit Ausrufezeichen – bei der Geschäftsführung.
Der Geschäftsführer ist in einem großen Krankenhaus aber doch weit weg vom Pfleger am Patientenbett?
Könnte man denken, und das ist auch das, was die Verteidigung hier immer wieder vermittelt hat: Was hat unser Mandant damit zu tun? Dabei hat dieser Prozess deutlich gezeigt, wie nah der Mann am Geschehen dran war.
Vor dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft wurde im Gerichtssaal ein Telefonat abgespielt, das während der Ermittlungen gegen Pflegestationsleiter Bernd N. aufgezeichnet worden war. N., der als Vorgesetzter Högels angeklagt war, hatte auf Geheiß des ebenfalls angeklagten Chefs der Herzchirurgie eine Liste erstellt – mit den Namen der diensthabenden Pflegekräfte und den Todesfällen bei Reanimationen. Högel führte jene Liste mit 18 Todesfällen weit abgeschlagen an.
Seit 1999 hat er Patienten umgebracht, indem er ihnen heimlich nicht indizierte Mittel verabreichte. Kalium, Gilurytmal, Sotalex, Xylocain und Cordarex: Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen, deren Missbrauch tödlich enden kann. Högel spritzte sie und verließ die Zimmer. Sobald die Warnsignale der Geräte, an die die Patienten angeschlossen waren, Alarm schlugen, versuchte er, die Menschen wiederzubeleben. Gelang das, wurde er gelobt. Oft aber gelang es nicht. Das sind Högels Todesopfer.
In dem abgehörten Telefongespräch erzählt Pflegestationsleiter N. einem Bekannten, wie er den Geschäftsführer des Klinikums auf Högel hingewiesen und gesagt habe, jetzt müsse man doch die Polizei benachrichtigen. Der Geschäftsführer habe das jedoch verhindert. „Jetzt reicht es aber“, habe der gesagt, es gebe doch keine Beweise. Der Geschäftsführer war also mit den Vorgängen vertraut, hat aber nichts unternommen. Deshalb war er nun angeklagt. Die Staatsanwältin hat in ihrem Plädoyer für Freispruch plädiert. Einige der Angeklagten hätten zwar Schuld auf sich geladen, die sei aber nicht justiziabel. Fahrlässiges Handeln hätte juristisch bestraft werden können, verjährt aber nach fünf Jahren. In diesem Prozess ging es um Taten, die sich von 1999 bis 2005 erstreckten.
Allein das Zustandekommen dieses Prozesses hat klargemacht, dass Patientensicherheit in Krankenhäusern absolute Priorität haben muss. Es kann und darf nicht primär um die sprichwörtliche schwarze Null und den Ruf des Hauses gehen, die qualifizierte Versorgung von Patienten muss im Mittelpunkt stehen. Das muss auch demjenigen klar sein, der die Geschäfte eines Krankenhauses führt. Auch deshalb dürfte dieser Prozess in vielen Chefetagen deutscher Krankenhäuser mit gespanntem Interesse verfolgt worden sein.
Sind Geschäftsführer von Krankenhäusern zu sehr auf die ökonomischen Bilanzen bedacht? Und das Patientenwohl bleibt dabei auf der Strecke? Kann man das so einfach sagen?
Krankenhäuser in Deutschland sind primär an der Erlössituation orientiert. Der archimedische Punkt an einer Klinik ist die schwarze Null oder der Gewinn. Alles andere richtet sich danach aus. Die Personalausstattung kommt, was Krankenschwestern und -pfleger angeht, heute der gleich, wie sie Mitte der 1990er Jahre gewesen ist, und das mit sehr viel mehr Patienten, die bei kürzeren Liegezeiten durch die Krankenhäuser geschleust werden.
Weil ich ja aus dem Ruhrgebiet komme, sage ich immer: Wenn Sie in Essen aus dem Zug steigen, 50 Jahre sind oder älter, humpeln Sie nicht, weil sich im Umkreis von 25 Kilometern mindestens 60 Kliniken finden, die künstliche Hüftgelenke einbauen wollen. Diese Kliniken konkurrieren alle miteinander um den gleichen Patienten, weil eine solche Operation lukrativ ist. Die einzelnen Krankenhäuser sind durch die Jünger des Marktes in diese Situation gezwungen worden. Es geht nicht um eine wissenschaftlich basierte oder um eine auf Krankheiten bezogene Planung.
Wie ist das im Zusammenhang mit den Taten Högels und seinen angeklagten Vorgesetzten zu betrachten?
Pflegerinnen und Pfleger müssen ihre Arbeit unter hohem Zeitdruck erledigen, dadurch sind sie fehleranfälliger, als wenn sie Muße und Ruhe hätten. Möglich, dass es einfach unterging, was sich dort zutrug. Und ein eh schon überlasteter Mitarbeiter ist auch nicht scharf darauf, sich zusätzlichen Stress ans Bein zu binden, indem er eine suspekte Beobachtung weitergibt und einen Kollegen nach oben meldet. Was, wenn sich der Hinweis als falsch entpuppt? Das kann sehr unangenehm sein. In Oldenburg standen zu der Zeit, als Högel dort tätig war, die Verantwortlichen, insbesondere die Geschäftsführung, eh gehörig unter Druck. Das Haus war bereits in einer schwierigen Lage wegen mehrerer tragischer Pannen und Unglücke.
Nämlich?
Es gab das Oldenburger Baby, einen Jungen, der 1997 im Klinikum eine misslungene Abtreibung überlebte und anschließend mehrere Stunden ohne medizinische Versorgung blieb. Damit machte das Klinikum bundesweit Schlagzeilen. Dann kam es 2001 zu einem Hygiene-Skandal, Patienten starben durch verkeimtes Kontrastmittel, und wieder machte das Klinikum Schlagzeilen. Beide Male gingen die Belegungszahlen zurück, die Erlössituation verschlechterte sich. Und dann verhält sich genau in dieser Krise ein Pfleger gefährlich. Alle sehen es, es gibt Gerüchte, es gibt Hinweise. Aber niemand von den hochdotierten Führungsleuten redet offen mit diesem Mann. Nicht der Chefarzt, der etwas wittert, nicht der Geschäftsführer, nicht die Pflegedienstleiterin.
Eine Schlüsselszene in diesem Prozess war der Moment, als sich die Pflegedirektorin an Niels Högel wandte, der als bereits verurteilter Mörder eine Zeugenaussage machte. Es war das einzige Mal, dass sich jemand von den Angeklagten vor Gericht überhaupt zu Wort meldete. Högel schilderte gerade, welche Probleme er seinerzeit hatte: die Trennung von seiner Frau, Einsamkeit, Alkohol, Überlastung. Da meldete sich die Pflegedirektorin, die Chefin aller Pflegerinnen und Pfleger, also auch Högels damalige Vorgesetzte, und sagte: „Aber ich bin doch die Schwester der Schwestern. Sie hätten jederzeit zu mir kommen können. Warum sind Sie denn nicht zu mir gekommen? Wir hätten eine Lösung gefunden.“ Was kann man an diesem Einwurf im Gerichtssaal erkennen?
Bitte beachten Sie, wie Högel reagierte. Er drehte sich zu der Frau um und sagte: „Sollte ich zu Ihnen kommen und sagen, dass ich Leute umbringe?“ Ich hatte in jenem Moment den Eindruck, dass diese Pflegedienstleitung ihre Aufgabe ebenso wohlmeinend wie naiv erledigte, dabei aber nicht gesehen und nicht gespürt hat, wie riesengroß ihre Distanz zur realen Lebenswelt ihrer Untergebenen war, als deren fürsorgliche Schwester sie sich sah. „Schwester der Schwestern“, damit meinte sie ja: eine von ihnen, den Pflegerinnen und Pflegern.
Aber Högel hätte ja tatsächlich zu ihr kommen können.
Da wird aber doch Verantwortung delegiert! Der Betroffene soll Rat suchen – warum kommt er denn nicht? Vorgesetzte müssen erst einmal Strukturen und eine Atmosphäre schaffen, in der das überhaupt denkbar ist. Allein zu sagen, „Sie hätten doch zu mir kommen können“, hilft höchstens der Vorgesetzten weiter.
Sie sagten eben, Verantwortliche müssten in solchen Situationen ihrer Verantwortung gerecht werden und handeln. Aber wie denn?
Indem sie nicht wegsehen oder unangenehme Gespräche wegdelegieren, sondern Hinweisen nachgehen, von sich aus nachfragen, mit ihrem Personal reden, aufklären.
Was wäre denn konkret im Fall Niels Högel richtig gewesen, nachdem es erste Auffälligkeiten gab, etwa die hohe Zahl an Todesfällen in seinen Schichten?
Nicht warten, bis der Pfleger selbst kommt und reden möchte, sondern das direkte Gespräch suchen, die Auffälligkeiten behutsam ansprechen, Hilfe anbieten. Schon alleine eine Rückmeldung wie „Niels, uns ist da dieses und jenes aufgefallen – können wir, müssen wir, sollen wir irgendwas tun?“ hätte vielleicht schon etwas bewirkt. Das wäre eine Hemmschwelle gewesen, weil er registriert hätte: Oh, ich bin aufgefallen. Stattdessen werden solche Ahnungen unter den Teppich gekehrt, um nicht neue Schlagzeilen zu produzieren.
Högel wurde zur Kündigung gedrängt, bekam ein gutes Zeugnis, bewarb sich damit in Delmenhorst – und mordete dort weiter.
Erst wurde er auf eine andere Station im Oldenburger Klinikum verschoben, weg aus der Herzchirurgie, weil der Chefarzt ihn nicht mehr um sich haben wollte, dann wurde er aus dem Klinikum gedrängt. Also: Weg von mir, weg von uns!
Ist möglicherweise die Angst bei diesen Führungskräften zu groß, jemandem etwas Falsches anzulasten?
Ja, sicher. Es ist die Frage, wie ich ein solches Gespräch führe. Das muss ja nicht konfrontativ-vorwurfsvoll sein. Wenn man das macht, ohne Verdächtigungen auszustoßen, wenn man dem Gesprächspartner signalisiert, dass man sich für sein Befinden interessiert, wird es häufig gelingen, eine Verhärtung zu verhindern. Und es wird in vielen Fällen gelingen, einen Weg zu finden, den man gemeinsam gehen kann und der verantwortlich ist im Sinne der Patientensicherheit.
Solche Gespräche muss man führen können. Lernen Führungskräfte in Krankenhäusern so etwas?
Nein, das lernen sie nicht. Entweder man bringt dieses Talent mit oder nicht. Besonders gefährlich sind die, die es nicht können, aber meinen, es zu können, und dann Gespräche führen, die besser unterblieben wären. Aber man kann auch auf die Idee kommen, sich beraten zu lassen – wenn die Bilanz nicht stimmt, machen sie das ja sofort.
In diesem Fall war es ein Chefarzt, der etwas spürte und, anstatt mit dem Pfleger zu reden, den Mann loswerden wollte. Nach welchen Kriterien werden Chefärzte eigentlich ausgewählt?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Der kann gut operieren“: Das ist das Kriterium. Die von Rudolf Virchow stammende Weisheit, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft ist, ist ziemlich ins Hintertreffen geraten in den letzten 30, 40 Jahren. Die Führungskompetenz von Chefärzten ist ein Einstellungskriterium, das relativ wenig Beachtung findet. Aber ich will es nicht verhehlen: Auch ich will mich lieber von einem unsympathischen, technisch hochversierten Kardio-Chirurgen operieren lassen, als von jemandem, der völlig empathisch ist, aber nicht operieren kann.
Empathie hätte hier aber vielleicht geholfen. Gibt es für Leute, die aufgrund ihrer herausragenden operativen Fähigkeiten ausgewählt werden, denn nicht Fortbildungsmöglichkeiten auf diesem ganz anderen, weicheren Sektor?
Die gibt es reichlich. Aber es sind freiwillige Veranstaltungen, die man nicht besuchen muss. In heutigen Krankenhäusern sind andere Dinge gefragt als die, über die wir jetzt hier reden. In dem Augenblick, in dem ich ein Krankenhaussystem dem Markt überantworte und aus einem Phänomen, das früher mal Gesundheitswesen hieß, eine Gesundheitswirtschaft mache, muss ich mich nicht wundern, dass die Geister, die ich gerufen habe, auch wirklich kommen. Und die sind jetzt da. Mehr als 30 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland sind mittlerweile privatisiert und auf ökonomische Leistung getrimmt.
Lassen Sie uns über Ihre Forschung zu dem Thema sprechen. Sie haben sich intensiv damit beschäftigt, warum Pfleger und Pflegerinnen morden. In einem Aufsatz, den Sie neulich publiziert haben, geht es um zwölf Mordserien in Deutschland. Welche Typen von Pflegern begehen solche Mordtaten? Warum passiert das immer wieder?
Was alle Täter eint, ist eine weit überdurchschnittlich hohe Selbstunsicherheit. Sie sind wenig überzeugt vom eigenen Wert, zweifeln an sich selbst und sind demzufolge stark angewiesen auf Lob, auf Anerkennung von außen. Zugleich genießen helfende Berufsgruppen ein vergleichsweise hohes Ansehen. Und junge Leute, die mit wenig Selbstbewusstsein aufgewachsen sind, hoffen unbewusst darauf, dass auch sie ein bisschen von dem Glanz, der auf Mutter Teresa gestrahlt hat, abkriegen.
Eine Hoffnung, die im Arbeitsalltag enttäuscht wird?
Die Realität ist das krasse Gegenteil davon. Nicht alle Patienten sind nett und freundlich und dankbar. Nicht alle Kollegen sind kollegial. Es gibt Konflikte und Belastungen. In dieser Lage vermengt sich das Selbstwert-Problem mit der eigenen Scham wegen dieses Defizits. Solche Menschen öffnen sich für gewöhnlich nicht, suchen keine Hilfe, nicht das Gespräch. Und dann kann sich im Laufe der Zeit diese Selbstunsicherheit so auswirken, dass sich jemand Sensationen verschafft. Das ist der Typ Niels Högel. Das hat es in diesem Ausmaß vorher nicht gegeben. Er suchte Glanz, indem er Menschen in die Lage versetzte, von ihm wiederbelebt zu werden. Das ist ein Mensch, der diesen Beruf nicht zuletzt deshalb ergriff, um seinen eigenen labilen, unzureichend ausgewickelten Selbstwert zu stabilisieren und sich groß zu fühlen.
Sie sprechen hier also konkret von Niels Högel?
Konkret von Niels Högel. Diese vordergründige, flüchtige Selbstwert-Stabilisierung, die hat er über erfolgreiche Reanimationen erfahren, die er selbst zuvor provoziert hatte.
Wie ist es sonst, bei anderen?
Der wesentlich häufigere Typ ist der, der nicht gesehen wird von Kolleginnen und von Vorgesetzten. Meldungen über absonderliches Verhalten versickern, und diese Menschen geraten dann über lange Zeit in eine Situation, in der sie das eigene Leiden an sich selbst in Konfrontation mit dem Leiden des Patienten, dem es schlecht geht, nicht mehr auseinanderhalten können. So verschmilzt das eigene Leiden mit dem fremden und das fremde mit dem eigenen. Eine Krankenschwester, die in Berlin Patienten ermordet hat, hat es so ausgedrückt: Mir geht es schlecht und Dir geht es schlecht, und bei Dir mache ich damit nun Schluss. Das ist prototypisch für diesen Tätertypus.
Als Patient oder Angehöriger kriegt man das gedanklich nicht zusammen, man denkt: Das sind doch die, die helfen wollen.
Das trifft ja auch auf fast alle Pflegekräfte zu. Einen Generalverdacht kann und darf es nicht geben. Umso wichtiger, dass diejenigen, die aus dem Ruder laufen, frühzeitig gesehen und gestoppt werden. Es sind eben nicht alle Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten, direkte Nachfahren von Florence Nightingale oder Albert Schweitzer. Da laufen nicht nur gute und edle Menschen rum – wie überall. Aber guten und kompetenten Menschen vertrauen wir unsere Angehörigen an, und im Krankheitsfall gehen wir selber dahin.
Diese Berufsgruppen sind diejenigen, von denen ich am wenigsten erwarte, dass sie mir Leid zufügen. Die Arglosigkeit von Patientinnen und Patienten und Angehörigen ist in einem Krankenhaus größer als an jedem anderen Ort. Auch deshalb gibt es keinen idealeren Tatort. Gestorben wird da sowieso, Tode fallen nicht weiter auf. Die Tatausführung sieht aus wie eine pflegerische oder medizinische Verrichtung und die Mordwerkzeuge liegen überall herum.
In dem Moment, in dem sie diese Mordwerkzeuge anwenden, sind die Pfleger Einzeltäter. Wie Niels Högel. Was müsste sich ändern, um so etwas zu verhindern?
Die Grundvoraussetzung ist das Wissen um solche Morde, also Aufklärung, und vor allem auch Zeit. Zeit, die Pflegerinnen und Pfleger brauchen im Umgang mit Patientinnen und Patienten, und Zeit, die sie brauchen für Beobachtungen und zum kollegialen Austausch. Zeit für Fortbildungen, Zeit zum Durchatmen. Zeit auch für Verantwortliche, für ihre Leute da zu sein. Das ist das, was fehlt.
Stand früher mehr Zeit für all das zur Verfügung?
Natürlich, das hat sich zurückentwickelt. Fragen Sie mal Ärzte oder Pflegerinnen im Ruhestand. Die sagen eigentlich alle, dass Krankenhäuser heute Orte sind, an denen es nicht mehr um den Menschen und seine Bedürfnisse geht. Patienten sind Fälle, die abgearbeitet werden müssen. Solange die Pflege und die Medizin so entwertet werden und Pflegerinnen und Pfleger das Gefühl haben, sie sind nichts anderes als Kostenfaktoren auf zwei Beinen, solange wird sich das nicht ändern.
Der Beifall von den Balkonen in Zeiten der Pandemie ist schön und nett, aber das, was de facto jeden Tag vor Ort passiert, das will niemand sehen und hören. Katastrophale Arbeitsbedingungen sind das, und die Beschäftigten laufen reihenweise weg aus den Krankenhäusern, weil sie es nicht aushalten. Unsere Gesundheitspolitik versagt erbärmlich. Wenn die Kommunen im Angesicht von Defiziten ihre Krankenhäuser verkaufen, weil sie die Daseinsfürsorge nicht mehr leisten wollen, dann ist es so wie das Verhalten des Geschäftsführers des Oldenburger Klinikums in Sachen Niels Högel: Bloß weg von uns, wir wollen das Problem aus unserer Welt schaffen.
In diesem Prozess wurde wenig über Angehörige und Hinterbliebene gesprochen, von denen einige im Saal saßen. Was meinen Sie, wie gehen die damit um, dass das Verhalten der Angeklagten ungesühnt bleibt?
Manche werden den Glauben an die Justiz verloren haben. Ich kenne mehrere, die sich verbittert abgewendet und die Verhandlungen nicht mehr verfolgt haben. Und es wird welche geben, die sagen: „Gott sei Dank, dass das wenigstens stattgefunden hat, dass die sich hier rechtfertigen mussten“. Das sind Erfahrungen, die wir alle nicht kennen. Stellen Sie sich eine Witwe vor, Mutter dreier Kinder, deren Mann in einem Bremer Krankenhaus lag und dort nicht gut behandelt wurde. Sie sorgt dafür, dass ihr Mann nach Delmenhorst kommt – und dann wird der dort umgebracht. Man kann nicht ermessen, was in dieser Frau vorgeht, wie alleingelassen sie ist mit ihrem Leid. Wenn sie nun sieht, dass die Verantwortlichen straffrei ausgehen, wird sie wohl keine Lobeshymnen auf die deutsche Justiz und die Krankenhäuser singen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen