Prozessauftakt Bülent Ciftlik: Finale für einen Vorzeigemigranten
10 Tatbestände, 40 Seiten Anklage: Der frühere Hamburger SPD-Politiker Bülent Ciftlik steht wieder vor Gericht. Ihm drohen mehrere Jahre Haft.
HAMBURG taz | Es geht ums Ganze vor der Sechsten Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts. Wenn am heutigen Mittwoch der Prozess gegen Bülent Ciftlik beginnt, wirft die Staatsanwaltschaft dem 39-Jährigen zehn unterschiedliche Tatbestände vor - genug schwerwiegende Straftaten, um den früheren SPD-Politiker für Jahre hinter Gittern verschwinden zu lassen, sollte seine Täterschaft bewiesen werden.
Rund 40 Seiten umfasst die Anklageschrift Ciftlik habe 2007 zusammen mit vier Helfern mindestens 56 Briefwahlanträge gefälscht, um seine Wahl zum Bürgerschaftsabgeordneten zu befördern, lautet einer der Vorwürfe. Einen Zeugen, der ihn in dieser Sache belastet hatte, soll Ciftlik im vergangenen Jahr geschlagen haben.
Die meisten Anschuldigungen aber beziehen sich auf ein Strafverfahren, in dem er im Juni 2010 erstinstanzlich zu einer Geldstrafe von 12.000 Euro verurteilt wurde und das nun ebenfalls neu aufgerollt wird: Ciftlik, damals Sprecher der Hamburger SPD, soll 2007 eine Ehe zwischen seiner Ex-Geliebten Nicole D. und dem von der Ausweisung bedrohten Türken Kenan T. eingefädelt haben, um diesem das Bleiben in Deutschland zu ermöglichen.
Nun wirft die Staatsanwaltschaft Ciftlik vor, während des "Scheinehe"-Prozesses nicht nur drei Zeugen in die Falschaussage getrieben zu haben, sondern obendrein zwei E-Mails selbst verfasst zu haben, die ihn entlasteten und angeblich von seiner Ex-Geliebten D. stammten. Diese Mails soll er mit Hilfe heimlich auf ihrem Laptop installierter Software in ihrem E-Mail-Konto eingepflanzt haben.
Seit Ciftlik mit dem Gesetz in Konflikt kam, ist seine Geschichte oft erzählt worden: Als moderne Tragödie eines Ikarus mit Migrationshintergrund. Als Story des Sohns türkischer Einwanderer, der es entgegen dem Rat seiner Lehrer aufs Gymnasium schaffte, Abitur machte und anschließend Politik studierte - in den USA. Der als persönlicher Referent des heutigen Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz eine verheißungsvolle Parteikarriere begann, die er schon bald als Sprecher der SPD und Bürgerschaftsabgeordneter fortsetzte.
Die Partei, die Medien, große Teile der türkischen Community: Sie alle liebten, sie alle hypten den smarten Sozialdemokraten, den Vorzeige-Migranten, der so wohltuend bewies, dass es doch klappen kann mit Integration und Karriere von Migrantenkindern - wenn die sich nur ordentlich anstrengen.
Der Spion: Der Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Gerd Löffler (CDU) wird 1994 wegen geheimdienstlicher Tätigkeit zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Löffler hatte für ein Honorar von 50.000 D-Mark zwischen 1974 und 1990 Geheiminfos an die DDR-Regierung geliefert.
Der Bildersammler: Der CDU-Abgeordnete Clemens Nieting aus Hamburg wird im Juli 2005 wegen des Besitzes von mehr als 20 Dateien mit Kinderpornografie zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten zur Bewährung und einer Geldbuße von 2.500 Euro verurteilt.
Wegen seiner mancherorts attestierten Ähnlichkeit mit dem US-Präsidenten und seiner Vorliebe für amerikanische Wahlkampfmethoden zum "Obama von Altona" verklärt, war Ciftlik ein perfektes personelles Angebot der SPD an die 60.000 türkischstämmigen Hamburger.
Auch er selbst verstand sich als "Abgeordneter aller Türken", für deren Anliegen er stets bereit war seine Drähte in die Behörden anzuzapfen. Ciftlik, auch das gehört zur Erzählung, half, wo er nur konnte - und am Ende vielleicht auch einmal zu viel.
Eine Durchsuchung seiner Wohnräume im Mai 2009 stoppte jäh den Höhenflug des Polit-Talents, leitete seinen freien Fall ein. Unter dem Verdacht stehend, eine Scheinehe gestiftet zu haben, verlor Ciftlik binnen weniger Monate erst seinen Posten als Parteisprecher, dann sein Abgeordneten-Mandat. Er wurde in erster Instanz schuldig gesprochen, aus der SPD geworfen und landete schließlich von März bis Juli 2011 in Untersuchungshaft.
Dabei ist der Kernvorwurf auf dem alles fußt, Ciftliks Beteiligung am Zustandekommen einer Scheinehe, eine Lappalie. Strafrechtlich ein Bagatelldelikt, das meist mit Strafbefehl samt Geldstrafe geahndet wird, ist eine Scheinehe zur Abschiebeverhinderung im Empfinden vieler Migranten eher eine Heldentat und auch für viele Genossen eher ein Kavaliersdelikt als schweres Unrecht.
Juristisch ist die Ausweisung türkischer Migranten aufgrund des im 1963 zwischen Europa und der Türkei geschlossenen Assoziierungsabkommens und der darin angelegten Freizügigkeit ohnehin umstritten. Ein Strafbefehl in dieser Sache hätte Ciftliks politische Karriere geknickt, doch wohl nicht endgültig beendet.
Ciftlik aber bestreitet bis heute standhaft, dass die Liaison überhaupt eine Scheinehe war. Er hat immer wieder seine Unschuld beteuert - gegenüber allen Vorwürfen - und sich stets als Opfer einer Intrige inszeniert. Dahinter vermutete er neidische Genossen, boshafte Staatsanwälte und eine liebeskrank-rachebeseelte Ex-Geliebte.
Abgesehen von ein paar Ungereimtheiten bei seinen Belastungszeugen hat Ciftlik bislang keinen einzigen glaubhaften Beleg für seine Behauptungen vorweisen können. Den Medien gelten seine Einlassungen deshalb längst als absurde Verschwörungstheorie. Sie haben ihr Urteil aufgrund der teilweise erdrückend wirkenden Beweislast schon jetzt gefällt: schuldig im Sinne in der Anklage.
Die Geschichte Ciftliks erscheint dabei in der Version der Staatsanwaltschaft als die Tragödie eines Mannes, der, um Ehre und Karriere zu schützen, einmal leugnete, dann nicht mehr zur Wahrheit zurückfand - und sich schließlich hoffnungslos in immer neue Lügen und Verdunklungshandlungen verstrickte. Als Tragödie eines Politikers, der, um nicht wegen eines Kleindelikts verurteilt zu werden, am Ende schwere Straftaten beging.
Nach allem, was aus den Akten bekannt ist, scheint der nun beginnende Prozess da reine Formsache. Eine Personalie aber lässt aufhorchen: Für das bis Mitte Mai terminierte Verfahren hat der Angeklagte Ciftlik die Hamburger Strafverteidigerin Gabriele Heinecke als Rechtsbeistand gewonnen. Die renommierte Anwältin hat es kaum nötig, sich in einem Verfahren zu verschleißen, das ihr von vornherein als aussichtslos erscheint.
Heinecke, nicht unbedingt als pressescheu bekannt, schweigt sich zu dem anstehenden Verfahren bislang konsequent aus. "Wenn es ihren Mandanten nützt, wählt Gaby gern den Weg über die Medien", charakterisiert einer ihrer Kollegen die Juristin. "Wenn sie auf stumm schaltet, hat sie fast immer noch ein Ass im Ärmel."
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