Prozess zu Folterungen in Syrien: „Ich wurde gekidnappt“
Der syrische Anwalt Anwar al-Bunni sagt im Prozess gegen mutmaßliche Assad-Schergen aus – und erzählt, wie er einen Beschuldigten in Berlin wiedertraf.
Angehörige haben die Bilder von über 50 Männern, Frauen und Kindern, die in Syrien verschwunden sind, vor dem Gericht aufgebaut und mit weißen Rosen und Tulpen geschmückt. „Ich will auch ihre Stimme sein“, sagt al-Bunni. „Zehntausende werden vermisst. Und die Verbrechen in Syrien gehen weiter.“
Im Gerichtssaal klagt der 61-Jährige, der 2014 als Flüchtling nach Deutschland kam und in Berlin ein Zentrum für Menschenrechte gegründet hat, das syrische Regime dann mit derlei Verve an, dass der Dolmetscher Schwierigkeiten hat, mit seiner Übersetzung hinterher zu kommen.
Al-Bunni spricht davon, wie das Regime das eigene Volk terrorisiert, Menschen foltert, mitunter bis zum Tod, oder einfach verschwinden lässt. So ausführlich, dass die Vorsitzende Richterin irgendwann dazwischen geht: „Weniger Statements, bitte.“
Entführt, als er zur Arbeit fahren wollte
Anderthalb Tage sind für al-Bunnis Zeugenaussage bis Freitag angesetzt. Er ist als Sachverständiger geladen und hat doch eine sehr persönliche Geschichte mit dem Hauptangeklagten, der in Koblenz vor Gericht steht.
Im Mai 2006 traf er zum ersten Mal auf Anwar R. Als al-Bunni zur Arbeit fahren wollte, hielt ein Auto neben ihm, zwei Männer sprangen heraus, zerrten ihn hinein, quetschten ihn in den Fußraum, setzten sich auf ihn und verbanden ihm die Augen, so berichtet er es vor Gericht: „Ich wurde gekidnappt.“
Vorn auf dem Beifahrersitz habe Anwar R. gesessen und ihn als „Verbrecher“ beschimpft. Er habe R. später an seiner Stimme wiedererkannt, so al-Bunni. Er wurde in die Vernehmungsabteilung des Allgemeinen Geheimdienstes gebracht und landete später für fünf Jahre im Gefängnis.
Anwar R. machte derweil im Geheimdienst Karriere. Er leitete die Ermittlungsabteilung und auch das dazugehörende, berüchtigte Al-Khatib-Foltergefängnis. Deshalb wirft ihm die Bundesanwaltschaft Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter in mindestens 4.000 Fällen, 58-fachen Mord, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung vor.
„Meine Familie saß insgesamt 73 Jahre im Gefängnis“
Welche Gründe es für seine Verhaftung gab, will die Vorsitzende Richterin von al-Bunni wissen. Er habe eine Woche zuvor einen Artikel über den Tod eines Häftlings nach Folter verfasst, sagt der Anwalt.
Auch sei er Leiter eines Zentrums geworden, mit dem unter anderem die EU Menschenrechtsaktivisten in Syrien unterstützen wollte. Man habe ihm Verbreitung falscher Nachrichten und die Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften vorgeworfen. Nach seiner Verhaftung gab es internationale Proteste.
Die Entführung war bereits al-Bunnis vierte Verhaftung. Mitglieder seiner Familie wurden, weil sie in der Opposition tätig waren, seit den 1970er Jahren verfolgt. Drei Geschwister, die sich in einer kommunistischen Gruppe engagierten, waren schon vor ihm verhaftet worden.
Das habe dazu geführt, dass er Anwalt geworden sei. „Meine Familie hat insgesamt 73 Jahre im Gefängnis gesessen“, sagt al-Bunni. Sie seien gefoltert worden. Und meist hätte keiner gewusst, wo die Familienmitglieder waren.
Die Folter begann schon vor dem Bürgerkrieg 2011
Jeder, der im syrischen Sicherheitsapparat gearbeitet hat, habe von der systematischen Folter gewusst, so al-Bunni. „Und er wusste nicht nur davon, er hat sie auch angewandt.“ Anwar R. hat das vor zwei Wochen in seiner Einlassung im Prozess bestritten. Auch alle übrigen Anklagepunkte wies er vehement zurück.
Folter, sagt al-Bunni, habe es in Syrien schon vor dem 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg gegeben. „Davor wollten sie Informationen über die Opposition bekommen. Aber nach 2011 war der Zweck der Folterung einfach die Rache.“
Die Anzahl der Inhaftierten sei in „beängstigender Weise“ angestiegen. Was geschehen sei, könne man „nicht einmal mehr als unmenschlich bezeichnen“. Als al-Bunni 2011 aus dem Gefängnis kam, arbeitete er weiter als Rechtsanwalt.
Einer, den er vertrat, war der Filmemacher Feras Fayyad, der am Mittwoch vor Gericht ausgesagt hatte. Über die erlittene Folter in Al-Khatib, zu der Zeit von Anwar R. geleitet – und auch darüber, dass es Leute wie al-Bunni waren, die ihn schließlich aus dem Knast holten.
Wiedersehen in Berliner Flüchtlingsunterkunft
2014 verließ al-Bunni mit seiner Frau Syrien und traf im Flüchtlingswohnheim in Berlin-Marienfelde einen Mann wieder, der ihm gleich bekannt vorkam. Doch es dauerte etwas, bis ihm klar wurde: Es handelt sich um Anwar R., den Mann, der ihn einst verhaftete. Und der wie er selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen war.
Al-Bunni gründete das „Syrian Center for Legal Studies und Researches“ und begann gemeinsam mit anderen Menschenrechtsaktivisten, Zeugenaussagen und Belege über Folter und Verletzungen von Menschenrechten zu sammeln, um sie Polizei und Justiz zu übergeben.
Das Ziel: Die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Mit Anwar R. muss sich nun weltweit zum ersten Mal ein mutmaßlicher Folterer des syrischen Regimes vor Gericht verantworten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins