Prozess nach neun Jahren: Pragmatik geht vor Gerechtigkeit
Obwohl der Einsatz, bei dem die Hamburger Polizei das „Kollektive Zentrum“ (KoZe) stürmte, rechtswidrig war, einigen sich Streitparteien vor Gericht.
Trotzdem beschäftigte sich das Hamburger Landgericht am Donnerstag wieder mit der Besetzung. Drei ehemalige Nutzer*innen des Zentrums mussten sich wegen Vorwürfen der Nötigung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und in einem Fall wegen vorsätzlicher Körperverletzung verantworten. Eine andere Kammer hatte sie im Jahr 2019 freigesprochen. Doch die Staatsanwaltschaft wollte das nicht akzeptieren und war in Berufung gegangen.
Das Geschehen, das neun Jahre zurückliegt, dreht sich um die von den Aktivist*innen sogenannte „Hofinvasion“. Am 27. Juli 2015 hatten morgens um fünf Uhr Bauarbeiter und zwei Hundertschaften der Polizei versucht, auf den Hof einer ehemaligen Gehörlosenschule im Münzviertel vorzudringen. Im unteren Teil des Gebäudes, mit Zugang zum Schulhof, hatten Aktivist*innen die Räume einer ehemaligen Kita gemietet. Offizieller Mieter war zwar der Stadtteilverein Kunage, er überließ die Räume aber dem Koze.
Die Liegenschaftsverwaltung der Stadt hatte damals angegeben, Asbest in dem Schulgebäude gefunden zu haben und rückte unangekündigt mit der Polizei samt Wasserwerfern und Räumpanzern an, um Baumaßnahmen zu ergreifen. Zugriff verschaffen wollten sich die Invasor*innen über das Schultor, das zu dem vom Koze genutzten Teil des Hofes gehörte.
Es gab keine abzuwehrende Gefahr
Die Angeklagten stemmten sich mit ihren Körpern gegen das Tor – das brachte ihnen den Vorwurf des Widerstands und der Nötigung ein. Eine von ihnen sollte einem Polizisten danach in die Kniekehle getreten haben. Beweise dafür oder Hinweise darauf brachte die Polizei in der ersten Instanz aber nicht vor.
Zudem sei der ganze Polizeieinsatz rechtswidrig gewesen, hatte der Richter damals geurteilt. Einen Räumungstitel hatte es nicht gegeben, der kam erst ein Jahr später. Das Hausrecht lag also bei den Aktivist*innen. Auch habe die Polizei nicht aus Gefahrenabwehr präventiv gehandelt, denn eine gefährliche, unübersichtliche Situation habe es nicht gegeben.
Die Staatsanwaltschaft sieht das naturgemäß anders. „Die Polizei hat präventiv gehandelt, um eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu verhindern“, argumentierte die Staatsanwältin am Donnerstag.
Die Richterin hingegen machte gleich zu Beginn des Verhandlungstages deutlich, dass auch sie den Einsatz für rechtswidrig hält. „Die offensichtliche Rechtswidrigkeit zeigt sich daran, dass ein Polizeizeuge noch in der Hauptverhandlung der ersten Instanz davon ausging, dass ein Gericht die Räumung angeordnet hatte“, sagte sie.
Doch wieso wurde der Einsatz überhaupt angeordnet, wenn es weder einen Räumungstitel noch eine Gefährdungslage gab? Der Einsatzleiter war damals kein geringerer als Hartmut Dudde, der spätere G20-Einsatzleiter und Chef der Schutzpolizei – bekannt auch wegen mehrerer rechtswidriger Einsätze. „Dudde war sich der Problematik sicher bewusst“, sagte die Verteidigerin Britta Eder.
Der Einsatzleiter hatte im Jahr 2004 den Bauwagenplatz „Wendebecken“ räumen lassen, ohne dass ein Räumungstitel vorgelegen hatte. Das Oberlandesgericht hatte daraufhin festgestellt, dass das Hausrecht noch bei den Wagenplatz-Nutzer*innen gelegen hatte und der Polizeieinsatz einer rechtlichen Grundlage entbehrte. Dudde machte danach noch fast 20 Jahre weiter bei der Hamburger Polizei Karriere.
Am Donnerstag einigten sich die Verfahrensbeteiligten, nicht alle Ereignisse noch mal in mehreren Verhandlungstagen aufzudröseln. Die Angeklagten und die Staatsanwaltschaft stimmten stattdessen einer Einstellung zu, für die zwei Angeklagte je 200 Euro zahlen müssen, ein Angeklagter 100 Euro – allerdings nicht an die Staatskasse, sondern an Women for Justice, einem Verein für die Rechte von Ezidinnen. Die Kosten für das Verfahren trägt der Staat.
„Ich möchte betonen, dass das ein riesiges Entgegenkommen unserer Mandant*innen ist“, sagte die Verteidigerin Britta Eder zum Schluss. Die Entscheidung sei rein verfahrensökonomisch motiviert. Allerdings sei es absurd, dass der Staatskasse – also den Steuerzahler*innen – dadurch, dass das Berufungsverfahren überhaupt eröffnet wurde, Kosten entstanden seien, die den Betrag, den die Angeklagten zahlen müssen, vielfach überstiegen.
Der Verteidiger Benjamin Tachau sagte: „Eigentlich müsste der Staat unseren Mandant*innen Entschädigung zahlen.“
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