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Prozess gegen mutmaßlichen NS-TäterSS-Wachmann von Stutthof angeklagt

Die Staatsanwaltschaft Hamburg wirft einem 92-Jährigem Beihilfe zu Mord vor. Er gibt zu, von Vergasungen im KZ gewusst zu haben.

Der 92-Jährige soll die Morde im KZ Stutthof wissentlich unterstützt haben Foto: dpa

Berlin/Hamburg taz | Die Verfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher gehen auch im Jahr 2019 weiter: Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat Anklage gegen einen 92-Jährigen erhoben, der zwischen August 1944 und April 1945 im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig als SS-Wachmann eingesetzt wurde. Bruno D. wird Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen vorgeworfen. Durch seine Tätigkeit als Wachmann habe dieser „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“, teilte die Staatsanwaltschaft am Donnerstag mit.

Nach einem Vernehmungsprotokoll, aus dem Die Welt zitiert, bestreitet D. nicht seine Anwesenheit im KZ Stutthof. Der gelernte Bäcker gab an, als 17-Jähriger nur deshalb zur SS gekommen zu sein, weil er wegen einer Herzerkrankung nur „garnisonsverwendungsfähig“ gewesen sei, also nicht als Soldat eingezogen werden konnte. Er habe sich stets vom Nationalsozialismus ferngehalten und keine Schuld auf sich geladen, sagte D. demnach.

Zugleich erklärte der Beschuldigte, von den Morden durch Giftgas sehr wohl gewusst zu haben. Er habe die Gaskammern gesehen und auch beobachtet, wie tote Häftlinge aus den Baracken geholt und „stapelweise“ ins Krematorium gebracht wurden, sagte Bruno D. Unter seinen SS-Kameraden habe man damals von „Judenvernichtung“ gesprochen. Ihm hätten die Opfer „leidgetan“. Auf die Frage, warum er kein Versetzungsgesuch abgegeben hätte, behauptete D., dies hätte ihn den Kopf kosten können. Allerdings ist kein einziger Fall bekannt, bei dem ein KZ-Wachmann tatsächlich deshalb zur Rechenschaft gezogen wäre.

Nach geltender Rechtssprechung zu Tötungen in Konzentrationslagern ist auch dann eine Verurteilung eines Lagerangehörigen möglich, wenn diesem kein individueller Mord nachgewiesen werden kann. Die Staatsanwaltschaft Hamburg wirft Bruno D. vor, als „Rädchen der Mordmaschinerie“ und „in Kenntnis aller Gesamtumstände“ die Morde in Stutthof wissentlich unterstützt zu haben.

In Stutthof wurden ab dem Sommer 1944 Häftlinge in einer Gaskammer ermordet, andere erschoss die SS durch Genickschüsse. Zudem starben viele Häftlinge infolge der grausamen Lebensumstände wie Lebensmittelentzug und fehlender medizinischer Versorgung. Bis zum Kriegsende starben dort etwa 65.000 Menschen.

Da der Angeklagte zum Tatzeitpunkt noch minderjährig war, muss eine mögliche Verhandlung vor einer Jugendkammer erfolgen. Über die Zulasung der Anklage entscheidet nun das Landgericht Hamburg. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, ob der 92-Jährige verhandlungsfähig ist. Zuletzt war Anfang April der Prozess gegen einen anderen in Stutthof eingesetzten SS-Wachmann vor dem Landgericht Münster wegen Verhandlungsunfähigkeit des 95-Jährigen Angeklagten geplatzt.

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3 Kommentare

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  • Einen 17-jährigen, der sich gegen das NS-Regime nicht auflehnen konnte, wegen Mordes zu verurteilen, scheint mir zuviel. Wie wenig Menschen haben etwas gegen die Nazis getan und wieviele haben es gewusst oder geahnt! Wenn wir die damals 17-jährigen wegen Mordes verurteilen, was ist dann mit den richtigen Männern, die sich nicht getraut haben? Was ist mit den heutigen deutschen Soldaten, die irgendwo Innendienst schieben und damit mittelbar völkerrechtswidrige Tötungen der Amerikaner unterstützen? Wir haben die Entnazifizierung nicht hinbekommen, viele Juristen und Beamte der Nachkriegszeit hatten echten Dreck am Stecken. Die Profiteure der Nazis, die IG Farben, die Quandts, die Deutsche Bahn, alle sind unschuldig. Kanzler Kohl ist von Leuten aufgebaut worden, die von solchen knapp Entnazifizierten gefördert worden sind und wurde mit einer Profiteurin verheiratet. Wer-nicht-arbeitet-soll-nicht-essen von Müntefering hat mehr mit Nazis zu tun, als mit Sozialdemokratie. Alles integere Leute. Aber die Greise heute verurteilen, weil sie als 17-jährige sich nicht getraut haben, Hilfe zu leisten oder wegzulaufen. Ich finde das schändlich!

  • 92-jähriger vor der Jugendkammer...

  • Wissen ist Beihilfe zum Mord

    Das hat Format:



    Nach geltender Rechtssprechung zu Tötungen in Konzentrationslagern ist auch dann eine Verurteilung eines Lagerangehörigen möglich, wenn diesem kein individueller Mord nachgewiesen werden kann



    Die „geltende Rechtsprechung“ entscheidet darüber, ob es Gesetz und Recht gibt, gab, oder geben wird, und ob das heute oder früher geltende Recht angewendet werden soll: also wenn ein Richter heute als handelnde Person dies so für richtig hält?



    Gilt das auch, wenn ein Richter heute meint, eine nachweislich falsche und lebensgefährliche Entscheidung eines seiner Vorgänger so für richtig hält?



    Gilt das auch, wenn ein Minister zugibt, vom vorsätzlichen Ersäufen der Kinder aus Afrika und aus dem Irak im Mittelmeer gewusst zu haben?



    Ist das regierungsamtliche und öffentliche Wissen über die tausendfach tödliche Migrationspolitik und das Konzept der Entwürdigung und Misshandlung tausender durch FRONTEX-Wachmänner Beihilfe? In vielen nachweislich und bestens dokumentierten Fällen Beihilfe zum Mord?