Prozess gegen mutmaßliche NS-Täter: Die Quadratur der Greise
Mutmaßliche NS-Verbrecher werden immer häufiger als verhandlungsunfähig eingestuft. Jetzt ist der Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wächter geplatzt.
Der 95-Jährige ist schwer herzkrank. Eine endgültige Entscheidung will das Landgericht Mitte März fällen, nach dem alle Prozessbeteiligten Gelegenheit zur Stellungsnahme erhalten haben.
Damit ist erstmal seit vielen Jahren ein Prozess gegen einen Beschuldigten geplatzt, dem Verbrechen während der NS-Zeit zur Last gelegt worden waren. Doch noch viel häufiger kommt es gar nicht erst zu einer Anklageerhebung, weil die hoch betagten mutmaßlichen Täter als verhandlungsunfähig gelten oder im Lauf der Ermittlungen sterben. Und das Tempo der Ermittlungen lässt bisweilen arg zu wünschen übrig.
Eher selten legen die Ermittler eine Geschwindigkeit wie bei dem Stutthof-Wachmann Johann R. vor. In Münster vergingen von der Anklage bis zum Prozessbeginn im November 2018 trotzdem 12 Monate.
Gaskammer? Welche Gaskammer?
Die Anklage hatte R. beschuldigt, er habe als junger Mann im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig als SS-Wachmann Beihilfe zu mehr als hundertfachem Mord begangen. R., das hat er in einer von seinem Anwalt verlesenen Erklärung vor Gericht selbst eingestanden, tat Dienst am Eingang des KZ wie auf den hölzernen Wachtürmen, von denen sich das Gelände gut überblicken ließ.
Einer der Türme stand nahe am Krematorium, wo die Leichen der Häftlinge verbrannt wurden und es furchtbar gestunken habe. Doch R. ließ auch mitteilen: „Von systematischen Tötungen habe ich damals nichts mitbekommen. Auch die Existenz einer Gaskammer war mir nicht bewusst.“
Das KZ östlich von Danzig ist heute eine Gedenkstätte. Einige der aus grobem Holz gebauten Schlafbaracken stehen dort in einer flachen Landschaft, mit dreifach übereinander angeordneten Schlafkojen. Stacheldraht umgibt das ehemalige Lager. Einige der Wachttürme haben sich erhalten. Von dort aus ist der Blick ins Innere der Mordstätte nahezu perfekt.
Der Personalbogen von Johann R. aus Stutthof hat sich erhalten und wird heute im Archiv der Gedenkstätte verwahrt. „Versetzt am 7.6.1942“ in das „K.L. Stutthof“ ist dort zu lesen, und in der nächsten Zeile „versetzt am 1.9.1944“ zum „SS-Kampfmarschverband Kurmark in Lieberitz“. Auf einem Foto macht R. in SS-Uniform und kurzen dunklen Haaren einen fast noch kindlichen Eindruck. Er war bei seiner Versetzung in das KZ 18 Jahre alt.
Wie Schnee im August
Bis zum Kriegsende starben in Stutthof vermutlich etwa 27.000 Menschen. Sie wurden mit Genickschüssen getötet und ab 1944 in einer Gaskammer getötet. Sie verreckten infolge von Mangel- und Unterernährung, erfroren in ihren hölzernen Baracken oder bei Außeneinsätzen, starben bei Epidemien oder durch simple Erkältungen, weil eine medizinische Versorgung kaum vorhanden war.
Die Schuld oder Unschuld von R. wird sich juristisch wohl nicht mehr klären lassen. Doch geständige Nazi-Täter sind in deutschen Strafverfahren etwa so selten wie Schnee im August.
Mord verjährt nicht. Deshalb ermittelt die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg auch 74 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft weiter gegen mutmaßlich Tatbeteiligte.
Doch es scheint, als gingen der Behörde langsam die Täter aus. Die Frauen und Männer, die heute noch am Leben sind, stehen in ihrem zehnten Lebensjahrzehnt. „Keiner unserer Beschuldigten ist jünger als 92 Jahre“, sagte der Leiter der Zentralen Stelle Jens Rommel der taz. Der derzeit Älteste sei 99.
Atteste am Laufband
Mit dem hohen Alter verbunden sind häufig Krankheiten und eine eingeschränkte Wahrnehmung, die, so wie bei Johann R., in eine Verhandlungsunfähigkeit münden. Wer seinem eigenen Prozess aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr folgen kann, der darf nicht vor Gericht stehen und geht straffrei aus.
In den 1960er Jahren war die attestierte Verhandlungsunfähigkeit ein beliebtes Mittel von SS-Tätern, sich ihrer Bestrafung zu entziehen. Mediziner produzierten entsprechende Gutachten, die Gerichte agierten langmütig. So mancher vermeintlich Schwerstkranke konnte sich nach der Einstellung seines Verfahren noch Jahrzehnte lang seines Lebens erfreuen. Solche bestellten Gutachten sind heute nicht mehr denkbar.
Die Zentrale Stelle hat in jüngster Zeit einige Erfolge bei der Ermittlung mutmaßlicher NS-Verbrecher erzielt. Die Behörde übernimmt die Vorermittlungen, die weitere Strafverfolgung ist Angelegenheit örtlicher Staatsanwaltschaften und, sollte Anklage erhoben werden, der Gerichte. Doch bisweilen sind die Verfahrenseinstellungen offenbar Ergebnis des Schneckentempos, mit denen diese Ermittlungen vorangetrieben werden.
Beispiel KZ Buchenwald. Die Staatsanwaltschaft Erfurt übernahm im Jahr 2017 insgesamt zehn Verfahren von der Zentralen Stelle. Vier der ehemaligen Aufseher sind inzwischen verstorben, die anderen sechs wurden bisher noch nicht einmal vernommen. „Die Vernehmungen stehen bevor“, erklärte dazu Oberstaatsanwalt Hannes Grünseisen der taz.
Zu langsam, zu spät
Majdanek: Geschlagene 14 Monate benötigte das Landgericht Frankfurt am Main, um Ende Dezember die Verhandlungsunfähigkeit eines heute 97-Jährigen Angeklagten festzustellen, der als Wachposten bei Massenerschießungen in dem KZ eingesetzt worden sein soll. Das Gericht entschuldigte sich mit Arbeitsüberlastung.
Auschwitz: Elf Monate brauchte das Landgericht Mannheim, um festzustellen, ob es die Anklage gegen einen 95 Jahre alten Mann zulässt, der 1942/43 als Wachmann im Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz Dienst getan hat. In der letzten Woche folgte endlich die Entscheidung: Der Beschuldigte ist nach einem medizinischen Gutachten dauerhaft verhandlungsunfähig.
Und auch im Fall von Ermittlungen gegen mutmaßliche Täterinnen im KZ Ravensbrück hat sich bisher nicht viel bewegt – trotz des Engagements der Staatsanwaltschaft Neuruppin. Diese ermittelt seit 2017 und 2018 gegen insgesamt acht Beschuldigte.
Von diesen sind inzwischen drei verdächtige Frauen verstorben, eine weitere gilt als verhandlungsunfähig. Die vier verbliebenen Verdächtigen seien bis Ende Januar 2019 noch nicht befragt worden, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt Wilfried Lehmann der taz.
Priorisierung nicht vorgesehen
Er hat im letzten Herbst ein Sonderdezernat gegründet, um die Ermittlungen zu beschleunigen. Die Beschuldigten im Alter von 94 bis 96 Jahren leben in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bayern. „Wir stehen unter Zeitdruck“, sagte Lehmann, der hofft, dass es bald endlich zu ersten Vernehmungen kommt.
„Empörend“ nennt Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, die lange Verfahrensdauer. Auch Holocaust-Überlebende würden sich darüber beklagen. „Man lässt die Leute einfach sterben“, klagt Heubner gegenüber der taz und spricht von „Desinteresse der Justiz“.
Staatsanwalt Rommel von der Zentralen Stelle mochte die offenkundige Langsamkeit mancher Justizorgane nicht kommentieren. Eine Priorisierung von Fällen aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Verdächtigen sei im bundesdeutschen Recht nicht vorgesehen, sagte er.
Die Zentrale Stelle bemühe sich schon bei ihren Vorermittlungen darum, herauszufinden, ob der Angeklagte erkrankt ist. Diese Hinweis werden an die einzelnen Staatsanwaltschaften weitergegeben.
Ein absehbares Ende
Nur in zwei Fällen konnten seit 2011 frühere SS-Männer verurteilt werden. Der Auschwitz-Kassenwart Oskar Gröning erhielt 2015 vom Landgericht Lüneburg eine vierjährige Haftstrafe. Reinhold Hanning, ein Auschwitz-Wachmann, wurde im folgenden Jahr zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Die Zentrale Stelle hat sich bei ihren Ermittlungen eine Altersgrenze von 99 Jahren auferlegt. Ältere Verdächtige werden nicht verfolgt, zumal vom Ermittlungsbeginn bis zu einer Verurteilung und einer möglichen Revision selbst im günstigsten Fall mehrere Jahre vergehen.
Da die Beschuldigten zum Tatzeitpunkt – spätestens 1945 – mindestens 18 Jahre alt sein müssen, lässt sich ausrechnen, wann die Ludwigsburger Ermittlungsstelle gegen NS-Verbrecher ihre Pforten schließen muss: Spätestens im Jahr 2026 ist Schluss mit der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus