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Prozess gegen einstigen SS-WachmannAnklage nach 70 Jahren

Beihilfe zu 300.000 Morden: Das Landgericht Lüneburg befasst sich bald mit Vorwürfen gegen einen einstigen SS-Wachmann im KZ Auschwitz. Dass das Verfahren zustande kommt, ist nicht selbstverständlich. Gegen weiteres Lager-Personal wird ermittelt

Wer hier Dienst tat, kann heute wieder von der Justiz verfolgt werden: Wachturm und Zaun des einstigen KZ Auschwitz-Birkenau. Bild: dpa

LÜNEBURG taz | Er war er für das Gepäck der verschleppten Menschen auf der Bahnrampe von Auschwitz-Birkenau mit zuständig, verbuchte das Bargeld, das die Neuankömmlinge dabei hatten. 70 Jahre später muss sich Oskar G. nun in Lüneburg vor dem Landgericht verantworten: wegen „Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen“. Durch Tätigkeiten wie die des heute 93-Jährigen „sollten die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge verwischt werden“, erklärt die Staatsanwaltschaft Hannover.

Eile tut Not

Einen genauen Termin habe die 4. Große Strafkammer noch nicht festgelegt, sagt die Lüneburger Gerichtssprecherin Frauke Albers der taz. Sie selbst erwarte aber eine rasche Eröffnung des Verfahrens – schon wegen des hohen Alters von Oskar G.

Insgesamt wirft die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg bundesweit 30 mutmaßlichen Aufseherinnen und Aufsehern aus Auschwitz-Birkenau „Beihilfe zum Mord“ vor (siehe Kasten). In Hamburg und Schleswig-Holstein laufen etwa Ermittlungen gegen mehrere Frauen, die zur Wachmannschaft oder dem sonstigen Personal gehört haben sollen.

Neuer Anlauf

Seit November 2013 ermitteln 20 Staatsanwaltschaften bundesweit gegen mehr als 30 Menschen, die am Morden in Auschwitz beteiligt gewesen sein sollen. Sieben mutmaßliche Täter leben im Ausland.

Die neuen Verfahren folgen auf eine Entscheidung des Landgerichts München im Jahr 2011: Es verurteilte den einstigen KZ-Aufseher John Demjanjuk für seine Anwesenheit im - einzig zur Vernichtung von Juden errichteten - Lager Sobibor. Wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen erhielt er eine fünfjährige Haftstrafe.

Das war ein Bruch mit der zuvor gängigen Rechtsprechung: Diese hatte stets individuelle Beweise für eine Täterschaft verlangt.

Im Falle G.s sah die Staatsanwaltschaft Hannover genügend Indizien für eine Anklage. Gegen drei weitere Beschuldigte seien die Ermittlungen dagegen eingestellt worden, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Klinge – wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit oder zwischenzeitlich eingetretenen Todes.

Gut zwei Jahre lang, von 28. September 1942 bis zum 16. Oktober 1944, soll G. der Anklage zufolge seinen Dienst in der sogenannten Häftlingsgeldverwaltung von Birkenau versehen haben. Der ehemalige Waffen-SS-Freiwillige soll das Bargeld von einem Häftlingskommando erhalten haben, welches Gepäck und Kleidung der Ermordeten durchsuchte.

Allein zwischen dem 16. Juni und dem 17. Juli 1944 trafen mindestens 137 Züge aus Ungarn in Auschwitz-Birkenau ein, brachten rund 425.000 Menschen in dass Lager. Aus Sicht der hannoverschen Staatsanwaltschaft muss Oskar G. davon gewusst haben: Wer nicht für die Zwangsarbeit ausgewählt wurde, den erwartete ein qualvoller Tod – unter Vorspiegelung, es gehe zum Duschen oder Baden.

Den Anklägern zufolge wurden bei der „Ungarn-Aktion“ mindestens 300.000 Menschen in den Gaskammern ermordet. Der Angeklagte selbst hat wiederholt angegeben, an der Rampe lediglich „Koffer bewacht“ zu haben.

Laufende Ermittlungen

Noch keine Anklage erhoben hat in einem verwandten Fall die Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig: Dort laufen derzeit Ermittlungen gegen eine Frau, die 1944 zwar nicht zum Wachpersonal gehört, aber in Auschwitz gearbeitet haben soll. Ob ein Verfahren gegen die ebenfalls über 90 Jahre alte Frau eröffnet wird, ist ungewiss. Über den Stand der Ermittlungen dürfe wegen der laufenden Ermittlungen nichts gesagt werden, heißt es bei der Generalstaatsanwaltschaft.

In Hamburg sind die Ermittlungen gegen eine ehemalige Angehörige des SS-Wachpersonals von Birkenau dieser Tage teilweise eingestellt worden: Ein britisches Militärgericht habe die heute 93-jährige Frau schon 1946 zu sieben Jahren Haft verurteilt, sagt Nana Frombach, Sprecherin der Hamburger Anklage – und es dürfe niemand für die gleiche Tat zwei Mal bestraft werden. Allerdings stehe die Frau weiter „im Verdacht, auch zur SS-Wachmannschaft im Konzentrationslager Majdanek gehört zu haben“, so Frombach.

Für das Verfahren in Lüneburg haben 16 Überlebende und Angehörige von Ermordeten ihre Zulassung für die Nebenklage beantragt. Acht Nebenklagen wurden schon zugelassen.

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