Prozess gegen Putschisten in der Türkei: Die Nacht von Marmaris
In Muğla stehen 38 Soldaten vor Gericht. Die Beteiligung am Putsch geben sie zu – doch mit der Gülen-Sekte wollen sie nichts zu tun haben.
Gökan Sönmezateş war Chef des Kommandos, das bei dem gescheiterten Putschversuch im letzten Sommer den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ergreifen oder aber, wie es die Anklage behauptet, erschießen sollte. Er hatte damit aus Sicht der Putschisten die wohl wichtigste Aufgabe in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli. Man könnte erwarten, dass Sönmezateş, wenn er denn reden würde, vieles über die Hintergründe, Drahtzieher und Ziele des Putsches zu erzählen wüsste.
Seit Montag dieser Woche steht Sönmezateş gemeinsam mit 37 weiteren Militärs in der türkischen Provinzhauptstadt Muğla vor Gericht. Erdoğan verbrachte in der Putschnacht mit seiner Familie einen Kurzurlaub in Marmaris. In der Anklage werden die Soldaten eines Mordkomplotts beschuldigt. Sie hätten den Staatspräsidenten und 15 weitere Angehörige und Begleiter von Erdoğan töten wollen.
Groß ist die Aufmerksamkeit in der türkischen Öffentlichkeit. Schon in den frühen Morgenstunden wird der eigens für den Prozess hergerichtete große Saal der Industrie- und Handelskammer von Muğla weiträumig von Gendarmerie und Polizei abgeriegelt. Als die Angeklagten über die Tiefgarage des Gebäudes hereingebracht werden, kreisen Hubschrauber über dem Gelände und auf den umliegenden Häusern sind Scharfschützen postiert. An den Absperrgittern haben sich Demonstranten eingefunden, die lauthals die Todesstrafe für die Angeklagten fordern.
Da Erdoğan noch in der Putschnacht die islamische Gülen-Sekte für den Putschversuch verantwortlich gemacht hatte, steht das Gericht vor der Aufgabe, die Behauptung des Präsidenten zu überprüfen. Im Vorfeld des Prozesses hieß es, der Angeklagte Zekariya Kuzu habe die Verbindungen zur Gülen-Sekte zugegeben.
„Wir sind Elitesoldaten“
Doch die beiden entscheidenden Kommandanten der „Operation Erdoğan“ bestreiten in dem Prozess entschieden, mit Fethullah Gülen und seiner Sekte irgendetwas zu tun zu haben. Şükrü Seymen, der unter dem Befehl von Sönmezateş ein Team von zwölf Elitesoldaten anführte, die Erdoğan im Hotel festnehmen sollten, sagt: „Ich habe mich an dem Putsch beteiligt, dazu stehe ich, aber ich lehne diese unsinnigen Beschuldigungen ab, im Auftrag oder als Mitglied einer islamischen Sekte gehandelt zu haben.“
„Wir sind Elitesoldaten“, betonen sowohl Oberst Seymen als auch Brigadegeneral Sönmezateş immer wieder. „Wir kämpfen seit Jahren gegen die PKK im Osten der Türkei und im Irak. Niemand von uns“, Seymen zeigt auf alle Angeklagten, „gehört einer islamischen Sekte an.“
Die Atmosphäre im Gericht ist sachlich und professionell, was vor allem dem Vorsitzenden Richter Emirşah Bastoğ zu verdanken ist. „Es ist das erste Mal seit meiner Verhaftung im letzten Juli, dass ich mich ausführlich zum Ablauf der Operation äußern kann“, sagt Gökhan Sönmezateş. Offenbar sind die Angeklagten in der Polizeihaft hart angefasst worden, was am zweiten Prozesstag auch Unteroffizier Zekeriya Kuzu, der vermeintliche Kronzeuge der Anklage, bestätigt. Überraschend zieht er alle seine Aussagen über die Verbindungen zu Fethullah Gülen zurück.
„Ich wurde unter Druck gesetzt. Weder ich noch die Anderen haben im Auftrag von Gülen gehandelt“, sagte Kuzu aus. Warum sie denn dann geputscht haben, wenn nicht in dessen Auftrag, will der Anwalt von Präsident Erdoğan, Hüseyin Aydın, wissen. „Aus demselben Grund wie General Kenan Evren 1980 und Oberst Alparslan Türkeş 1961“, gibt Oberst Sükrü Seymen stolz zu Protokoll. „Um unser Land zu retten“.
Es habe drei Gründe gegeben, die die Militärs veranlasst hätten zu putschen, erklären sowohl Seymen wie Sönmezateş: die „fehlerhaften Verhandlungen“ mit der PKK, die Korruption im Umfeld von Erdoğan, die Zusammenarbeit mit den Islamisten in Syrien.
Terzi kann nicht mehr sprechen
Ihre Befehle hätten sie von General Semih Terzi erhalten, einem der führenden Kommandeure der Sondereinsatztruppen der Armee. Doch Terzi kann nicht mehr sprechen: Er ist noch in der Putschnacht erschossen worden.
Sönmezateş und Seymen wollen davon in der Tatnacht nichts mitbekommen haben. Der am frühen Morgen des 16. Juli nach vielen Verzögerungen ergangene Befehl, zu Erdoğans Hotel zu fliegen, sei vom Luftwaffenstützpunkt Akıncı in Ankara gekommen. Doch zu diesem Zeitpunkt wussten die führenden Putschisten längst, dass Erdoğan bereits auf dem Weg nach Istanbul war. „Ich glaube“, sagte Sönmezateş zum Abschluss seiner Vernehmung, „wir sind in eine Falle gelockt worden, um dem Ganzen einen dramatischen Anstrich zu geben.“
Mit einem Urteil wird frühestens Ende nächster Woche gerechnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag