Prozess gegen Ex-No-Angels-Sängerin: Unter die Gürtellinie
Die Ex-No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa soll einen Mann mit HIV angesteckt haben. Am Montag hat ihr Prozess begonnen. Was der Fall über den Umgang mit dem Virus sagt.
Nadja Benaissa ist HIV-positiv. Der Staatsanwaltschaft Darmstadt ist es geschuldet, dass ganz Deutschland das weiß. Einer ihrer Sprecher ließ verlauten, dass die ehemalige Sängerin der Popgruppe No Angels ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt haben soll, ohne den Liebhabern ihre Infektion mitzuteilen. Einen soll sie angesteckt haben. Im April 2009 wurde die Sängerin deswegen kurz vor einem Auftritt verhaftet und saß zehn Tage in Untersuchungshaft.
Am 16. August beginnt nun der Prozess gegen die 28 Jahre alte gebürtige Frankfurterin vor dem Amtsgericht Darmstadt. Egal wie er verläuft, er wird wie eine Schablone sein, in die der verkorkste Umgang, der vielfach mit HIV und Aids gepflegt wird, eingeritzt ist.
Die Infektionen
Der Termin: Am 16. August beginnt in Darmstadt der Prozess gegen Nadja Benaissa. Ihr wird vorgeworfen, mit insgesamt drei Menschen ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, ohne diesen ihre HIV-Infektion zu offenbaren. Enden soll der Prozess am 26. August.
Die Sängerin: Nadja Benaissa, 28, wurde im Jahr 2000 mit der Casting-Popband No Angels bekannt. Wegen der nun im Prozess verhandelten Vorwürfe wurde sie am Osterwochenende 2009 kurz vor einem Auftritt festgenommen. Im Juli 2009 äußerte sie sich erstmals öffentlich zu ihrer HIV-Infektion. Ein Jahr später, im Juli 2010, stieg sie bei den No Angels aus.
Noch immer nimmt die Zahl der Menschen, bei denen eine HIV-Infektion diagnostiziert wird, zu. Nach neuesten Zahlen des Robert-Koch-Instituts gab es 2009 insgesamt 2.856 Erstdiagnosen. Ein Jahr zuvor waren es 2.843. Ungefähr 20 Prozent aller Infizierten sind Frauen.
Männer, die Sex mit Männern haben, sind mit 67 Prozent die größte Risikogruppe. Bei ihnen stieg die Zahl der Neuinfektionen im Vergleich zum Vorjahr um 3,3 Prozent. Hingegen ging sie bei Drogenkonsumenten, die Spritzen benutzen, um 20 Prozent zurück. Rückläufig sind die Neudiagnosen auch bei Migranten aus sogenannten Hochrisikoländern in Osteuropa und Afrika - mit 6,3 Prozent.
Was aber oft ignoriert wird: Heterosexuelle sind mit 17 Prozent die zweitgrößte Risikogruppe. Dort haben die Neuinfektionen 2009 ebenfalls zugenommen, um 3,2 Prozent. Es stimmt also nicht, dass HIV und Aids ein Problem der anderen ist - der Schwulen, Afrikaner, Prostituierten und Fixer. Der Fall Nadja Benaissa spielt im nicht anderen, im heterosexuellen Milieu.
Safer Sex
Da die mögliche HIV-Übertragung beim Geschlechtsverkehr geschehen sein soll, wird Safer Sex als Thema in dem Prozess gegen Benaissa nicht ausgeklammert werden. Haben sie? Haben sie nicht? Infektionen sind allerdings auch möglich, wenn ein Kondom reißt.
Die antiviralen Medikamente bei HIV-Infektionen sind mittlerweile so gut, dass Betroffene ein normales Leben führen und eine normale Lebenserwartung haben können - wenngleich die Medikamente starke Nebenwirkungen haben. Zudem ist eine infizierte Person, die so gut medikamentös eingestellt ist, dass die Viruslast mindestens ein halbes Jahr unter der Nachweisgrenze liegt und sie keine anderen sexuell übertragbaren Krankheiten hat, eigentlich nicht infektiös, sagt Marianne Rademacher, Ärztin und Referentin der Deutschen Aidshilfe.
Ob sich dies auf sorgloseren Umgang beim Sex auswirkt, ist offen. Aber will man das im Prozess tatsächlich alles abfragen? War Benaissa medikamentös gut eingestellt? War der Umgang mit der HIV-Infektion beim Sex ein sorgloser? Und wenn ja, wer war sorglos? Gibt es eine Rangordnung der Verantwortung?
Die Übertragungswege
HIV gehört zu den schwer übertragbaren Krankheitserregern. Das Virus ist außerhalb des menschlichen Körpers unter Alltagsbedingungen nicht lebensfähig. Medizinisch belegt ist, dass Sperma und Blut stark viral belastet sind, stärker als Scheidensekret und Muttermilch. Übertragen werden kann das Virus nur, wenn es in ausreichender Menge direkt in die Blutbahn oder auf die Schleimhäute gelangt - etwa wenn eine Frau ihre Menstruation hat und der Mann kleine Hautrisse am Penis oder im Anus. Während der Periode ist das Infektionsrisiko für die Frau wie für den Mann erhöht. Es gibt jedoch Hinweise, dass HIV leichter vom Mann auf die Frau übertragen wird als umgekehrt. Natürlich kommt es auch noch auf die sexuellen Praktiken an.
Nadja Benaissas intimes Leben wird im Prozess wohl gescannt werden. Ihre eigene Infektion - seit wann? Wie erworben? Seit wann weiß sie es? Ihr Leben wird zur Sprache kommen: dass sie als Teenager auf Trebe war, dass sie cracksüchtig war, dass sie mit 17 Jahren eine Tochter zu Welt brachte. Wie wird vermieden, dass daraus subjektive Schlüsse gezogen werden? Wie verhandelt man subjektive Fantasien auf neutralem Terrain?
Die Nachweisbarkeit
Die Staatsanwaltschaft Darmstadt klagt Nadja Benaissa wegen gefährlicher Körperverletzung an, weil sie einen Liebhaber mit HIV infiziert haben soll. Der Nachweis, wer wen infiziert hat, ist jedoch nicht so einfach. Zum einen mutiert das Virus im Körper. Bis zu vier Monate nach der Infektion müsste der Virenstamm analysiert sein, sagt Ärztin Rademacher. Und Ulrich Markus vom Robert-Koch-Institut ergänzt: Aber selbst wenn zwei Infizierte denselben Virenstamm haben, könne man nicht sicher sein, wer wen angesteckt habe. Zudem dürfen weder die eine noch die andere Person in der Zwischenzeit mit einem Dritten Kontakt gehabt haben. Sonst könnte als Überträger auch noch der Dritte fungieren.
Sollte dies alles zur Sprache kommen, dann wird das Sexualleben von Benaissa und dem klagenden Exliebhaber minutiös durchleuchtet.
Tabu HIV
Nadja Benaissa hat ihren Sexualpartnern verschwiegen, dass sie HIV-positiv ist. Schon das ist laut Gesetz ein Vergehen: versuchte gefährliche Körperverletzung. Kommt es zu einer Ansteckung, ist es gefährliche Körperverletzung. Mögliche Höchststrafe: zehn Jahre Gefängnis.
Warum aber verschweigt jemand eine HIV-Infektion? Und hat er oder sie dafür nicht gute Gründe, die viel über die Gesellschaft sagen? Denn deren Umgang mit HIV und Aids ist kein guter. Als "Schwulenseuche" wurde und wird die Infektion bis heute begriffen. Aids und HIV hängt der Nimbus sexueller Abweichung an. Vorschläge von Zwangstests und separater Internierung ähnlich den Aussätzigen im Mittelalter wurden von Politikern immer wieder einmal gefordert. Dass die Krankheit sich quer durch die Gesellschaft zieht, dass Familienväter positiv sind, genauso wie Mütter, wird nicht gesehen. Dabei ist es medizinisch mittlerweile möglich, als HIV-Positive gesunde Kinder zur Welt zu bringen.
Wer HIV-positiv ist, wird vermeiden, dass seine Infizierung öffentlich wird. Denn HIV gilt als schuldhaft erworbene Krankheit. Die schiefen Blicke, die gefürchteten Nachteile im Beruf, die Angst vor sozialer Ausgrenzung sind zu große Hürden. Nadja Benaissa wurde von der Staatsanwaltschaft geoutet. Gegen ihren Willen.
Die Vorverurteilung
Erstmals wird jetzt eine prominente Frau angeklagt, einen Mann mit HIV angesteckt zu haben. Da es sich um eine Person des öffentlichen Lebens handelt, wird groß darüber berichtet. Dass vor einem Urteil die Unschuldsvermutung gilt, spielt kaum eine Rolle. Früher wurde man nach der Verurteilung zur Strafe an den Pranger gestellt. Heute geschieht dies durch die Berichterstattung schon vorher. Die mediale Öffentlichkeit wird zum modernen Pranger.
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