Provenienzforschung in Braunschweig: Der Patronengurt des Helden
Kaufleute und Militärs stifteten ihrer Stadt gerne erbeutete Trophäen. Das Museum nimmt jetzt diese historisch sensiblen Bestände ins Visier
Mit 8.000–9.000 Stücken sind die ethnografischen Bestände in Braunschweig überschaubar. Allerdings ist die Quellenlage zur Herkunft der Objekte mager, wenn überhaupt vorhanden, so der Direktor des Städtischen Museums, Peter Joch. Der Auftrag des 1861 gegründeten Hauses war stets, Gesammeltes und Bewahrenswertes von Braunschweiger Bürger:innen als kulturelle, historische oder sozialgeschichtliche Zeugnisse der Stadtgesellschaft aufzunehmen und zu präsentieren.
Entsprechend breit gefächert ist die Sammlung. Sie umfasst etwa einen Salonflügel des örtlichen Herstellers Grotrian-Steinweg, den die Pianistin Clara Schumann einst zum Hausgebrauch erwarb, Malerei des 19. Jahrhunderts, die der Kunstverein zusammentrug, oder auch die Formsammlung, die der Künstler und Pädagoge Walter Dexel ab den 1940er-Jahren als Beispiele vorbildlichen Handwerksgutes angelegt hatte.
Widerstandskämpfer „entwaffnet“ und hingerichtet
Nach 1880 waren aber auch Objekte aus den deutschen Kolonien in Afrika ins Haus gekommen. Diese sind grundsätzlich als historisch sensibel einzuordnen. Kurt Strümpell (1876–1947), unter anderem von 1900 bis 1912 Offizier der „deutschen Schutztruppe“, also kolonialer Streitkräfte in Kamerun, vermachte dem Haus rund 700 Objekte. Weiteres Sammlungsgut stammt von Gustav Voigts (1866–1934), ab 1892 als Kaufmann im heutigen Namibia nachgewiesen, aber auch als Reserveoffizier. So befehligte er im Mai 1896 die Niederschlagung eines Aufstands der Bevölkerungsgruppe der Ovambanderu unter ihrem Anführer Kahimemua Nguvauva. Bevor dieser im Juni 1896 hingerichtet wurde, „entwaffnete“ ihn Voigts, indem er seinen Patronengurt an sich nahm. Bei einem Heimatbesuch 1898 soll Voigts den Gurt dem Museum übergeben haben – eine Trophäe, mit dem Vorbehalt persönlichen Eigentums. Offiziell vom Museum inventarisiert wurde das Stück deshalb nie.
In Namibia allerdings bewahrte sich das Wissen um den Gurt, wird Kahimemua Nguvauva doch dort als Nationalheld und früher Kämpfer gegen den Kolonialismus verehrt. Endgültige Gewissheit über die Authentizität des Stückes brachte dann Anfang November der Besuch einer 21-köpfigen Expert:innenkommission aus Namibia, die das Material und seine Verarbeitung verifizierte, und auch in einem Feuerritual ihres Ahnen gedachte. Die Restitution des Patronengurts ist wohl nur mehr Formsache, er soll dem Nationalmuseum in Windhoek übergeben werden.
Mit den Landesmuseen Hannover und Oldenburg, dem Roemer-Pelizaeus-Museum in Hildesheim und der Ethnologischen Sammlung der Georg-August-Universität Göttingen ist das Städtische Museum Braunschweig im Verbundvorhaben Postkoloniale Provenienzforschung Niedersachsen, kurz PAESE, engagiert, das Ende 2018 seine Arbeit aufnahm. Die Grundlagenforschung zu den Erwerbswegen ethnografischer Bestände in Niedersachsen will in enger Kooperation mit Vertreter:innen der jeweiligen Herkunftsgesellschaften auch den zukünftigen Umgang mit den beforschten Sammlungen und ihren Objekten klären, so die Ziele.
Neuanfang statt Verlust
Diese neue Sichtweise empfindet mögliche Restitutionsforderungen nicht mehr als Bedrohung und möglichen Verlust, sondern vielmehr als einen Neuanfang. Ethnologische Museen hätten sich überlebt, findet Joch, es ist Zeit, Gerechtigkeit walten zu lassen. Sie beginnt schon damit, Quellen sensibel und auch gegenläufig zu lesen. Denn was bedeutet es, dass ein Objekt aus einem „Nachlass“ stammt, wenn der ursprüngliche Besitzer hingerichtet wurde? Oder sogenannte „Gastgeschenke“: Wären traditionelle Herrschaftsinsignien wirklich freiwillig und so generös abgegeben oder doch mehr, um sich einen übermächtigen Kolonialherrn gewogen zu halten? Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich auch im postkolonialen Kontext: Die Familie Voigts soll 70 Prozent des bewirtschaftbaren Landes in Namibia halten – eine Ungerechtigkeit bis heute, so Joch.
Seit 2020 vertritt der Ethnologe Rainer Hatoum die Provenienzforschung am Braunschweiger Haus. Er plädiert für individuelle Lösungen, einzigartig wie das Objekt selbst und seine Bedeutung für die Community, deren Geschichte, Identität und Seele es widerspiegelt. Der gleichberechtigte Dialog sei dafür Voraussetzung. Mit Vertreter:innen Namibias ist er durch wechselseitige Besuche mittlerweile gut eingespielt. Zu Sammlungsbeständen aus Kamerun wurde der Dialog eröffnet: Ein offizieller Repräsentant der Königsfamilie der Bangwa, aus deren Gebiet viele Objekte der Sammlung Strümpell stammen, kam im Juli ins Museum.
Selbst umfangreiche Restitutionen würden nicht das Ende einer Sammlung bedeuten. Im Städtischen Museum Braunschweig sollen die Ovambanderu künftig ihre Geschichte selbst darstellen, aus ihrer Sicht erzählen. Das Haus wird zur Diskussionsplattform, vielleicht auch mithilfe außereuropäischer Künstler:innen – ein offener Prozess der Welterklärung.
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