Protokoll einer Flucht aus der Ukraine: Der Sound des Krieges
Viele Menschen in der Ukraine wurden vom Angriff der russischen Armee überrascht. Protokoll einer überstürzten und gefährlichen Flucht.
Als ich am 22. Februar, zwei Tage vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, nach Kiew kam, um einen Vortrag zu den Forschungsergebnissen einer Mediennutzungsanalyse vorzubereiten, die ich im Auftrag der staatlichen ukrainischen Medienaufsicht erstellt hatte, war die Stimmung noch entspannt. Die Menschen in meiner Umgebung rissen sogar Witze und weigerten sich, überhaupt nur an die Möglichkeit des Krieges zu denken. Sie versicherten mir, wie gut ich es hätte, da ich aus der westukrainischen Stadt Ternopil komme.
Mit rund 200.000 Einwohner:Innen liege Ternopil doch in der sicheren Provinz. Putin würde es niemals wagen, in den westlichen Teil der Ukraine einzumarschieren, habe ich zu hören bekommen. Die Forschungsergebnisse hätte ich dann zwei Tage später offiziell präsentieren sollen, im Beisein von Regierungsvertreter:Innen. Am 23. Februar gab es noch ein feierliches Dinner in einem Thai-Restaurant.
Frühmorgens um 5 Uhr am 24. Februar wurde ich von Granateinschlägen aus dem Schlaf geschreckt. Ich wusste vorher gar nicht, wie Explosionen klingen. Für ein Feuerwerk war der Lärm definitiv zu laut, das war mir sofort klar. Ich weckte meinen Freund, um mich zu vergewissern. Wir informierten uns im Internet und fanden so heraus, dass der Angriff gleichzeitig und neben Kiew auch auf andere Regionen und Städte in der Ukraine erfolgte, inklusive des Westteils des Landes.
Zerstörung einer Brücke
Wir hatten großes Glück, dass wir Zugtickets erwerben konnten. Auf dem Weg zum Kiewer Hauptbahnhof hörten wir erneut schweren Gefechtslärm. Diesmal war das Ziel eine Brücke im historischen Viertel Podil, die bombardiert wurde. Es klang infernalisch. Als wir im vermeintlich sicheren Ternopil ankamen, hatten wir bereits so viel Angst, dass wir lieber im Auto übernachteten. Wir hatten es strategisch in der Nähe eines Luftschutzkellers geparkt, sollte es wieder zu Angriffen kommen. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich diese Entscheidung überhaupt in Frage gestellt hätte. Als ich sie getroffen habe, war ich mir sicher, dass es so am besten sein würde.
Meine Erlebnisse in den Tagen seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen mein Land schreibe ich von einem Hotelzimmer in Budapest aus. Dorthin habe ich mich nach 16-stündigem Warten an der ungarisch-ukrainischen Grenze in Sicherheit bringen können. Die Flucht ist geglückt, aber noch nicht zu Ende.
Ich glaube, ich bin nützlicher für die Menschen in der Ukraine, wenn ich aus der sicheren Entfernung berichte. Zugleich fühle ich mich schuldig, dass ich die Menschen, die in Kiew und anderswo in Bunkern ausharren müssen, zurückgelassen habe. Ich sorge mich um meine Eltern und weitere Verwandte von mir. Am liebsten möchte ich sofort in die Ukraine zurückkehren, aber zu Hause ist es zu gefährlich.
Überflüssig zu erwähnen, dass mein Vortrag am 24. Februar abgesagt wurde. Von Putin persönlich, wie ein Kollege von mir im Scherz geschrieben hatte. Über viele Jahre habe ich als Beraterin für Menschenrechtsorganisationen gearbeitet, die dem Frieden verpflichtet sind. Ich frage mich, ob ich nun damit aufhören soll und stattdessen darüber nachdenken muss, wie Frieden überhaupt erreicht werden kann?
Oksana Lemishka arbeitete vor ihrer Flucht als Medien- und Kultursoziologin in Kiew.
Aus dem Englischen von Julian Weber
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“