Protestmarsch: Unter Schafen
Deutschlands Wanderschäfer sind im Juni zu einer Wanderung quer durchs Land aufgebrochen. Klaus Seebürger ist einer von ihnen und hat mit einer kleinen Herde eine 300 Kilometer lange Etappe durch Niedersachsen übernommen.
Es ist nach sechs Uhr und die Herde ist noch nicht unterwegs. Dabei haben die 210 Schafe einen langen Tagesmarsch vor sich und steht die Sonne erstmal hoch am Himmel, wird es den Tieren zu warm und sie wollen bloß noch im Schatten stehen.
Schäfer Klaus Seebürger ist um fünf Uhr in der Früh aufgebrochen. Hinter den Hügelketten des Weserberglands wird es langsam hell, noch wärmt die Sonne nicht. Auch Seebürger muss erst warm werden. "Ist mir noch zu früh zum Reden", sagt er und verschwindet zwischen den wartenden Schafen, die in ihrem Reisepaddock aus Elektrozaun schon recht mobil aussehen. Aber bevor es losgeht gibt es Wasser für die Schafe und Kaffee für die Menschen, denn bis zur Mittagspause um zwölf Uhr wird es nur eine kurze Rast geben - wenn auch eine unfreiwillige.
Klaus Seebürger und seine Schafe haben eine Mission. Sie protestieren. Als eine von 30 Herden sind sie beim Hirtenzug 2010 dabei, der im Juni in Berlin zu einem 1.200 Kilometer langen Protestmarsch aufgebrochen ist. Seebürger und Schafe wandern eine 300 Kilometer lange Etappe von Lüneburg bis Blomberg, wo er am heutigen Samstag den Wanderstab weitergeben wird.
Der Hirtenzug 2010 ist noch bis zum 17. Oktober unter dem Motto "Wir pflegen die Landschaft, die Sie lieben" über 1.200 Kilometer in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg unterwegs. Die Anliegen der Schäfer:
Die Elektronische Kennzeichnungspflicht jedes einzelnen Tieres, die im Januar 2010 eingeführt wurde, soll abgeschafft werden.
Den ermäßigten Steuersatz auf Mineralöl gibt es bisher nur für die Pkw der Imker. Schäfer nutzten statt Traktoren zumeist Pkw und wollen auch eine Ausnahmeregelung bei der Agrardieselsteuer.
Die Förderung des Nachwuchses sollte vom Bund und den Ländern unterstützt werden.
Bessere Bezahlung und weniger bürokratische Hürden durch EU-Richtlinien, sind weitere Wünsche.
Ihre Arbeit, die für den Arten- und Küstenschutz unerlässlich ist, soll anerkannt werden.
Es ist fast halb sieben Uhr als sich die Herde leise trappelnd in Bewegung setzt. Ein bunter Haufen zieht da hinter dem gemächlich wandernden 51-Jährigen her. "Ich habe die Herde extra für den Hirtenzug zusammengestellt", sagt er: zwei Ziegen, zwei Esel, weiße Bergschafe, graue und weiße Heidschnucken, Fuchsschafe mit braunen Köpfen, Schwarzköpfe, ungarische Zackelschafe mit korkenzieherförmigen spitzen Hörnern und Skudden, die auch ausgewachsen eher an Lämmer erinnern. Die meisten dieser Tiere stehen auf der Roten Liste der gefährdeten Nutztierrassen. Seebürger hat die heutige Route im Kopf. Am Vortag ist er die Strecke mit dem Rad abgefahren. "Aber man weiß nie, wie schnell die Tiere unterwegs sind", sagt er. Acht bis 15 Kilometer schafft so eine Schafherde am Tag. Heute werden es etwa zehn Kilometer sein.
Vor 33 Jahren hat Seebürger, der mit seinem ältesten Sohn auf einem Hof im niedersächsischen Amt Neuhaus 25 Mitarbeiter beschäftigt, in Hamburg seine Ausbildung zum Schäfer begonnen. Damals hatte er eine romantische Vorstellung vom Schäferleben. Irgendwie HuckleberryFinn-mäßig mit in die Stirn gezogenem Hut und Grashalm zwischen den Lippen an einem sonnigen Tag an einem rauen Baumstamm lehnen und den Schafen beim Fressen zusehen. Einen Hut hat Seebürger, manchmal lehne er auch an einem Baumstamm. "Aber romantisch ist das Schäferleben nicht", sagt er. "Heute sitze ich mehr im Büro, als draußen bei den Schafen zu sein." Schuld daran ist zum Beispiel die im Januar 2010 neu eingeführte Kennzeichnungs- und Registrierungsregelung. Mussten die Schafe früher beim Besitzerwechsel mit einer Marke gekennzeichnet werden, muss heute jedes Schaf zusätzlich eine Ohrmarke mit individueller Nummer und einen Chip bekommen. "Dieses Verfahren ist kompliziert, kaum umsetzbar und kostet mich das Fünffache", sagt Seebürger. Ein Problem sei auch, dass die EU die Mutterschafprämie zugunsten der Flächenprämie abschaffte. 25 bis 28 Euro gab es früher pro Mutterschaf und "da wusste ich genau, wie viele Schafe ich halten musste, um auszukommen". Jetzt gebe es eine Flächenprämie, doch das sei kein Ausgleich, weil die Flächen immer teurer und zugleich rarer würden. "Ich habe Glück, weil mir Land gehört und ich die Flächenprämie bekomme", sagt Seebürger. Aber die meisten seiner Kollegen haben kein Land.
Nach einer Weile biegt die Herde vom Feldweg auf eine Landstraße ab. "Straßensperren gab es früher kostenlos. Heute nimmt die Polizei pro Einsatz 60 Euro", erzählt Seebürger als er seine Schafe auf die Straße führt. "Das ist vor allem für den ein Problem, der zwischen zwei Weiden eine Bundesstraße überqueren muss, die kann man nicht ohne Polizeisperre passieren." Die Landstraße schon. Seebürger grüßt die wartenden Autofahrer verbindlich und verteilt Flyer, die über den Protestzug informieren. Einige Autofahrer lächeln, grüßen und nicken verständnisvoll, andere kurbeln nicht einmal die Scheibe runter und sehen mürrisch aus ob der erzwungenen Pause. Kurz bevor die Herde wieder auf einen Waldweg einbiegt, treibt Seebürger die Tiere auf einer Verkehrsinsel zusammen. Das macht ihm sichtlich Freude, denn eine normal große Herde mit bis zu 1.000 Tieren passt auf keine Verkehrsinsel. Die 200 Protestschafe schon und sie nutzen die Pause und fangen sofort an zu fressen.
Seebürger geht es bei dem Protestzug vor allem darum, dass die mobile Tierhaltung weiter möglich und erlaubt sein soll. Oft gebe es Ärger mit Landwirten, die nicht wollen, dass die Schafe an ihren Monokulturen vorbeigrasen, geschweige denn drüber laufen. Schafe tragen in ihrem Fell fremde Samen, die sie dann auf den Feldern verteilen. Was für die Bauern ein Problem ist, freut Leonie Schäfer. Die 23-Jährige hat gerade ihren Bachelor in Biologie gemacht und vertreibt sich die Zeit bis zum Beginn des Masterprogramms mit Feldstudien beim Hirtenzug. Das Fell zweier Fuchsschafe ist blau markiert, so erkennt Schäfer ihre Samenschafe. "Das da ist die Resi", sagt sie. "Die ist sehr anhänglich und schmusig." Und das andere markierte? "Naja, das ist eben nicht die Resi." Jeden Abend klaubt sie Samen aus dem klebrigen Fell der Schafe und nimmt Kotproben. Mit den gesammelten Daten kann untersucht werden, wie weit Schafe auf ihren Wanderungen Samen verteilen und so helfen, die Vielfalt der Pflanzenarten zu erhalten.
Auch die Berufsschäfer in der Vereinigung Deutscher Landschafzuchtverbände (VDL) wollen mit dem Hirtenzug darauf aufmerksam machen, dass die herumziehenden Schafe die Artenvielfalt fördern. Auf Deichen und im Deichvorland sind sie zudem eine unerlässliche Maßnahme des Küstenschutzes. Trotzdem haben die etwa 500 Berufsschäfer in Deutschland damit zu kämpfen, dass für sie nur wenig ertragreiche Weideflächen übrig bleiben. Außerdem sorge die Konkurrenz aus Übersee dafür, dass immer mehr Wanderschäfer aufgeben müssten. Nur 40 Prozent des Bedarfs an Lammfleisch werden von den deutschen Schäfern erzeugt. Von Nachwuchssorgen ganz zu schweigen. Denn wer wolle schon in einem Beruf arbeiten, der weltweit in der Landwirtschaft die längsten Arbeitszeiten bei zugleich niedrigstem Einkommen hat. "Als ich ich vor mehr als 30 Jahren anfing, habe ich für ein Lamm 250 Mark bekommen", sagt Seebürger. "Heute bekomme ich 40 bis 50 Euro."
Beinahe fünf Stunden sind Seebürger und die Schafe schon unterwegs. Die Tiere kommen auf dem schattigen Waldweg gut voran und auch der kieselige Untergrund macht den empfindlichen Hufen weniger zu schaffen, als er angenommen hatte. Nur ein Schaf musste Seebürger aus der Herde nehmen und auf den Hänger verfrachten, der die lahmen Tiere zur nächsten Etappe fährt. Irgendwas muss aber doch noch schief gehen, das sei immer so. Dieses Mal sorgen die Esel Burkhardt und Kassandra für eine unfreiwillige Pause und entscheiden sich, einen anderen Weg als die Herde einzuschlagen. "Nicht laufen, nur rufen! Wenn du läufst, dann hauen die ab", ruft Seebürger einem Helfer am Ende der Herde noch zu, aber zu spät. Die Esel sind schon ab durch die Mitte, die Schafe legen sich sofort mitten auf den Weg und käuen in aller Ruhe wieder. Es wird eine halbe Stunde dauern, die Esel zurückzubringen und als die Herde weiterzieht, zeigt Seebürger auf die Stelle, wo eben noch seine 200 Tiere ruhten. Wer auf eine rastende Herde trifft, der sollte seine Schritte mit Bedacht wählen, um nicht in Schafkot zu treten. "Hier im Wald macht das natürlich nichts, aber wenn ich mit meiner Herde durch ein Dorf ziehe, haben die Leute da kein Verständnis für", sagt Seebürger. "Ich muss dann schon mal mit dem Besen hinterher."
Viel Arbeit, schlechte Bezahlung, wenig Anerkennung und doch strahlt Seebürger mit seinem gestutzten grauen Vollbart und breiten Lächeln eine Ruhe aus, als würde er tatsächlich den ganzen Tag an einem Baum lehnen statt beim Veterinäramt neue Wanderrouten anzumelden, den Förster um Erlaubnis zum Passieren des Waldes zu bitten oder sein beinahe minütlich klingelndes Handy zu beantworten. Wenn er unterwegs ist und seine Herde hinter sich hört, dann weiß er, wieso er niemals etwas anderes sein will als Schäfer. "Ich komme zur Ruhe und wenn wie vorhin die Esel abhauen, habe ich keine Zeit, darüber nachzugrübeln, was ich mit meinem Leben anfangen will, oder ob ich Probleme habe. Dann fange ich Esel. Mehr nicht. Und das gefällt mir."
Am Samstag wird Seebürger den Stab in Blomberg an Schäfermeister Anton Hesse übergeben. Er fährt dann mit seinen Schafen heim nach Amt Neuhaus, der Hirtenzug zieht weiter. Am 17. Oktober endet der Protestmarsch in Trier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen