Protestkarawane durch Westafrika: Gegen die "Festung Europa"
2.000 Kilometer zieht eine Karawane von Flüchtlingen, Bauern und Landlosen zum Weltsozialforum, um Europas Abschottungspolitik anzuprangern. Die taz ist mit dabei.
Bamako, 24. Januar
Das Experiment beginnt auf einer staubigen Brache. Normalerweise gehört die Fläche in dem ärmlichen Außenbezirk von Malis Hauptstadt Bamako trainierenden Fußballern. Doch heute hat hier die Malische Vereinigung der Abgeschobenen (AME) einen Versammlungsort aufgebaut: Planen als Sonnenschutz, Bänke, aus Boxen tönt Reggae-Musik, in einer Hütte wird gekocht.
Zwischen Kindern, die mit leeren Konservendosen umherlaufen und um Geschenke bitten, steht Alassanne Dicko und telefoniert ausdauernd. Dicko ist der Präsident der AME, und er hat große Pläne: In den nächsten Tagen sollen sich hier Basisinitiativen aus Westafrika und Europa sammeln und aufbrechen zu einer Karawane des Protests.
Vom 6. bis 11. Februar 2011 findet in Senegals Hauptstadt Dakar das 10. Weltsozialforum statt. Veranstaltungsort ist die Universität Cheikh Anta Diop. Rund 700 Veranstaltungen und 1.200 VeranstalterInnen sind registriert. Es ist das dritte Weltsozialforum in einem afrikanischen Land.
Eingeleitet wird das Forum von einer Protestkarawane "für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung" aus Malis Hauptstadt Bamako nach Dakar. Der vom Netzwerk "Afrique-Europe-Interact" organisierte Protestzug thematisiert vor allem Europas Abschottungspolitik. Die letzte Station der Karawane ist das "Welttreffen der MigrantInnen" auf der senegalesischen Insel Gorée, geplant für dieses Wochenende. Gorée war einst Umschlagplatz für den Sklavenexport nach Amerika, heute hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex dort einen Vorposten. Auf Gorée soll eine "Weltcharta der Migranten" verabschiedet werden.
"Europa öffnet sich nach innen, aber es zwingt Afrika dazu, sich zu schließen", sagt Dicko. "Enorme Summen fließen hierher, um zu verhindern, dass Menschen nach Europa kommen." Die Arbeit der AME ist eine Folge dieser Politik: Mali ist voll von gestrandeten Migranten aus ganz Afrika, die auf auf ihrem Weg nach Europa zurückgeschickt wurden - wie vor Jahren auch Dicko selbst.
Die AME hat seit langem Kontakte zu antirassistischen Gruppen in Europa. Als Dicko sie einlud, gemeinsam zum Weltsozialforum zu ziehen, sagten diese zu. "Es ist ein Experiment", sagt Olaf Bernau vom "NoLager"-Netzwerk. Das unterstützt in Deutschland Flüchtlinge bei ihren Versuchen, sich zu organisieren. Doch auf die Dauer genüge das nicht: "Letztlich geht es darum, das Dominanzverhältnis zwischen Nord und Süd zu verändern." Das sei nur denkbar, "wenn Initiativen von hier und dort versuchen, trotz aller Ungleichheiten auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten", so Bernau.
Ein Jahr lang bereitete das eigens gegründete "Afrique-Europe-Interact"-Netzwerk diesen Versuch vor. Nun sind in der Nacht die letzten europäischen Aktivisten in Mali angekommen. Einige hätten es fast nicht geschafft: Sie waren bei einer Zwischenlandung in Paris im Gefängnis gelandet. Aus Protest gegen eine Abschiebung hatten sie sich geweigert, vor dem Start ihre Plätze einzunehmen. Doch jetzt sind sie da, ebenso wie eine Delegation der Sans-Papiers aus Frankreich und rund 200 der "Refoulées": Abgeschobene, zusammengeschlossen in der AME.
Bamako/Nioro, 26. Januar
Fünf Busse stehen am Morgen auf dem Platz bereit. Auf dem Boden türmen sich Schaumstoffmatten, Transparente, Taschen voller Flugblätter. Mit Rucksäcken bepackte Teilnehmer der Karawane treffen ein, Händler bieten ihnen Zahnbürsten, Sandalen und Telefonkarten an. Ein Bus stammt aus Deutschland: Ein Schild, das das hessische Dillenburg als Ziel ankündigt, hat noch niemand entfernt. Nach zwei Stunden ist alles verstaut.
Die Fahrt ins mauretanische Grenzgebiet führt vorbei an Affenbrotbäumen, Ziegenherden und vertrockneten Maispflanzen. In Nioro hat die AME-Ortsgruppe einen großen Empfang in einem leeren Schulgebäude organisiert. Auf winzigen Grills im Garten wird Tee in Metallkannen gekocht und in kleinen Gläsern gereicht. Überall fliegen Heuschrecken umher, sie landen in den Haaren, es gibt Streit um die Moskitonetze.
Der Polizeipräfekt verlangt eine Liste mit den Namen aller Beteiligten, "aus Sicherheitsgründen". Seitdem Islamisten in Mali Ausländer entführen, gilt auch Nioro als Einflussbereich von al-Qaida. Die AME hat deshalb die Polizei um Schutz für die morgige Aktion gebeten. Als sich das herumspricht, bricht eine wütende Debatte aus. "Ihr wisst doch genau, was passiert, wenn die mitkommen: Am Ende schlagen sie uns", sagt ein Kongolese. So ist es am Tag zuvor geschehen: Bei ihrer Kundgebung vor der französischen Botschaft vertrieb die Polizei die Karawane mit Knüppeln und Tränengas. In Nioro wird die Polizei schließlich wieder ausgeladen.
Nioro, 27. Januar
Am Morgen beginnt ein symbolischer Trauermarsch, eine 15 Meter lange Liste wird durch die kleine Stadt getragen. Sie trägt die Namen von über 14.000 Menschen, die an Europas Außengrenzen starben. "Wir wollen an die Opfer der Festung Europa erinnern", sagt ein Sprecher der Sans-Papiers, der sich "Minister für Legalisierung" nennt.
Die Aktivisten legen die Liste vor der Präfektur auf der Straße nieder. Roter Staub weht darauf, Kinder knien hin und wischen ihn weg. Tuareg in blauen Gewändern stehen an der Seite und schauen zu, der Papierlosen-Minister bittet um eine Schweigeminute. Eine ältere Frau drängelt sich nach vorn, greift nach dem Mikrofon. Ihre Kinder sind im Exil, aber sie weiß nicht, wo, und hat Angst um sie. Aus praktisch jeder Familie in Nioro gehen Söhne auf der Suche nach Arbeit ins Ausland. "Wenn ihr hier seid, um die Migranten zu verteidigen, dann grüße ich euch", sagt die Frau.
"Mit unseren Forderungen rennen wir hier eigentlich offene Türen ein", sagt Hagen Kopp aus Hanau. Vor Jahren hat er das Netzwerk "Kein Mensch ist illegal" mitgegründet. "Die Frage ist nur, wie wir es schaffen, dass daraus ein gemeinsamer politischer Prozess wird." Die Karawane mit ihren Flugblättern, Stelzenläufern und Fotografen komme ihm vor "wie ein Ufo" in der Wüste. Doch solange sich Europas Grenzen immer weiter nach außen verschieben, müsse eine antirassistische Bewegung dem "Grenzregime an seine Hotspots folgen", meint Kopp.
Gogui, 28. Januar
Gogui ist so ein Hotspot. Wer aus dem Bus tritt, den trifft der Wüstenwind wie ein Schwall heißes Wasser, der Sandsturm lässt nach wenigen Minuten die Augen brennen. An diesem winzigen Grenzort setzt die mauretanische Polizei die Flüchtlinge aus, die spanische Einheiten der EU-Grenzschutzagentur Frontex vor den Kanarischen Inseln abfangen. Das Gleiche tun die Algerier weiter östlich an ihrer Grenze zu Mali. Manchmal nimmt das Rote Kreuz sie in Empfang, manchmal auch nicht. Immer wieder sterben völlig dehydrierte Flüchtlinge.
In Gogui hat die EU ein Schild aufgestellt: "Stoppt die irreguläre Migration - sie gefährdet die malische Gesellschaft." Vor dem einzigen einigermaßen intakten Haus hocken zwei Grenzpolizisten. Trotz der brüllenden Hitze tragen sie schwarze Wollmützen, vor ihrem Mund Schlafmasken, zum Schutz gegen den Sand. Außer ein paar Kindern sind sie fast die einzigen Zuschauer des sich langsam formierenden Demozugs der Karawane. Die will in Gogui "gegen all die Verbrechen an Flüchtlingen in der Wüste" protestieren. Ein französisches Anarchistenpärchen sprüht "Grenzen töten" an die Rückwand des Grenzhäuschens.
Die Polizisten führen ein Filmteam zu zwei völlig verfallenen Hütten, etwas abseits der Straße. Sie gleichen Ziegenställen, drinnen liegen ein paar vergessene Kleidungsstücke, weit und breit ist kein Wasseranschluss in Sicht. "Hier können sich die Flüchtlinge ausruhen, bevor sie weiterziehen", erklärt der Polizist.
Bamako, 1./2. Februar
Inzwischen treffen in Bamako am Abend die letzten Gruppen ein, die mit der AME-Karawane nach Dakar reisen wollen. Tunesische Aktivisten, voller Stolz auf ihren geglückten Regimesturz. Bäuerinnen aus Burkina Faso, denen Großgrundbesitzer das Land streitig machen, auf dem sie Subsistenzanbau betreiben. Togoische Flüchtlinge, die seit den Wirren bei den Wahlen 2006 in einem Flüchtlingslager im benachbarten Benin leben. Einer von ihnen ist Amadou Tourai. "Es gibt hier so viele Probleme, die kann niemand allein lösen. Deshalb will ich nach Dakar", sagt der junge Mann, der sein Studium in Lomé abbrechen musste.
Dicko drückt es so aus: "Das WSF ist ein Ort, an dem sich die Kämpfer treffen. Und darum wollen wir da sein." Auf fast 500 Menschen wächst die Karawane an - und exponentiell steigen die Reibungsverluste: Bis unter allen Präsidenten und Generalsekretären Einigkeit herrscht, vergehen nun oft chaotische Stunden.
Bernau sieht das "eher mit einem lachenden Auge", sagt er. "Wenn wir uns ernst nehmen, dann müssen wir lernen, auch unter schwierigen Bedingungen zusammen Lösungen zu finden." Nur so könne "Vertrauen entstehen, das sich hoffentlich später in politisches Vertrauen übersetzt."
Kayes 2./3. Februar
Kayes, im Westen Malis, ist eine Hochburg der Auswanderung. Am Morgen beginnt eine Konferenz mit Bewohnern der Stadt. Die Deutschen haben ein Theaterstück vorbereitet. Es schildert das Leben des in Dessau in einer Polizeizelle verbrannten Asylbewerbers Oury Jalloh. Eine Frau erhebt sich. "Das macht einem ja Angst", sagt sie. Einige der Aktivisten sind sich unsicher, ob das Stück die richtige Botschaft war. "Wir wollen nichts romantisieren, aber andererseits wollen wir den Leuten ja auch nicht ausreden, ihr Glück in Europa zu versuchen", sagt Hagen Kopp.
Dicko erhebt sich zu einer Rede. "Wir haben zwei Ziele, und sie sind uns gleich wichtig", sagt er. Natürlich sei es besser, "wenn die Lebensverhältnisse so sind, dass man bei sich bleiben kann". Deshalb sei es fatal für ein Land wie Mali, wenn alle Jungen es verlassen. "Um soziale Rechte müssen wir hier kämpfen", sagt er. Doch für ihn sei klar: "Bewegungsfreiheit ist ein Menschenrecht."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid