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Proteste nach Gipfel-Verlegung

Zwischen sechs und elf Millionen Dollar hat die Vorbereitung des Treffens Jelzin–Chirac–Kohl in Jekaterinburg gekostet. Nun findet es in der Hauptstadt statt  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Erst sah es nur wie eine schwere Kränkung aus – für Jekaterinburg und seinen Gouverneur Eduard Rossel. Aber gestern wurde die Verlegung des ursprünglich in der Ural-Metropole geplanten Gipfels zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl, dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und seinem russischen Amtskollegen Boris Jelzin nach Moskau zum Anlaß für Demonstrationen. Zu den Protestierenden in den Straßen Jekaterinburgs gehörte die ganze Belegschaft eines der großen örtlichen Rüstungsunternehmen. Auf die Palme gebracht hatte sie die Kunde, daß hier Millionen von Dollars zur Vorbereitung des Treffens zum Fenster hinausgeworfen wurden. Woher das Geld kam, interessierte die DemonstrantInnen dabei wenig.

Viele Einwohner Jekaterinburgs haben seit Monaten kein Gehalt mehr zu Gesicht bekommen. Als besonders peinlich empfinden sie es, daß sie sich offenbar für dumm verkaufen ließen. „Wir haben der Regierung wirklich geglaubt, daß sie kein Geld hat. Seit wir aber im Fernsehen gehört haben, welche Summen hier in den Wind gestreut wurden, wissen wir: das Geld ist da, nur nicht für den militärisch-wissenschaftlichen Komplex“, sagte eine einfach gekleidete Frau dem Reporter des privaten Fernsehsenders NTV.

Offizielle Angaben über die Mittel, die allein der Umbau der Vorstadt-Residenz des Gouverneurs für das Treffen verschlungen hat, schwanken zwischen sechs und elf Millionen Dollar. Außer der Stadtverwaltung erlitten auch örtliche Betriebe Verluste. Sie bereiteten für die hohen Gäste einen wahrhaft orientalischen Schwall von Geschenken vor.

Wenigstens nicht ganz umsonst schufteten die örtlichen Juweliere. Gemmen aus Uraledelsteinen wanderten für Kohl und Chirac nach Moskau. Aber was wird aus den Teppichen mit Ikonenmuster aus Jelzins Heimatdorf? Was aus der schwarzen Eisenskulptur „Bär auf den Hinterbeinen“, die stark dem deutschen Kanzler ähneln soll? Die Jekaterinburger Konditoreiwaren-Fabrik „KONFI“ kreierte in Rekordzeit eine neue Pralinenmarke zwecks Gipfel-Bewirtung. In einer dreieckigen Schachtel mit den Abbildern des Kremls, des Eiffelturms und des Brandenburger Tores lauert allerlei mit Mandeln und Kognak Gefülltes. Ein Teil der Bonbonnieren konnte diese Woche für umgerechnet siebzig Mark pro Stück in den Verkauf gebracht werden.

Den nicht zum Käuferkreis zählenden Jekaterinburgern wird wenigstens das Demonstrieren versüßt. Als Nebeneffekt der Gipfel- Vorbereitungen weisen die Straßen Jekaterinburgs keine Schlaglöcher mehr auf.

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