piwik no script img

Proteste in der TürkeiEine Botschaft aus dem Silivri-Gefängnis

Der festgenommene Oberbürgermeister Istanbuls, Ekrem İmamoğlu, will AKP-Wähler für sich gewinnen. Auch Anhänger der Partei von Präsident Erdoğan sind erzürnt.

Ein Protestierender trägt eine Maske mit seinem Gesicht: İmamoğlu, Präsidentschaftskandidat und Gefangener des türkischen Staats Foto: Dilara Senkaya/reuters

Istanbul taz | „Wir wissen, dass sich auch viele Wähler der AKP für das Vorgehen ihrer Regierung schämen. Wir werden diese Wähler umarmen.“ Mit dieser Botschaft von Ekrem İmamoğlu kam am Dienstagmittag der Parteichef der CHP, Özgür Özel, von einem Besuch bei dem inhaftierten Istanbuler Oberbürgermeister zurück. İmamoğlu ist seit Sonntag im berüchtigten Silivri-Gefängnis inhaftiert, wo seit Jahren etliche Erdoğan-Kritiker weggesperrt sind. Özgür Özel durfte den Gefangenen am Dienstag besuchen und berichtete anschließend von der versöhnlichen Botschaft des inhaftierten Bürgermeisters.

In der Türkei, wie in allen anderen überwiegend muslimischen Ländern, beginnen an diesem Freitag die Feierlichkeiten im Anschluss an die einmonatige Fastenzeit. Dieses sogenannte „Zuckerfest“ ist das zweitwichtigste Fest im islamischen Kalender. İmamoğlu wollte offenbar gerade den Gläubigen eine Botschaft mitgeben, die die Polarisierung in der türkischen Gesellschaft überwinden soll.

Das gilt auch als Reaktion auf eine Kampagne, die die Regierung jüngst begonnen hatte – mit dem Zweck der Spaltung und der Denunzierung derjenigen, die seit nunmehr sieben Tagen protestieren. Angeblich, so behaupten Regierungsvertreter, sei aus einer Gruppe von Demonstranten heraus am Montagabend Erdoğan und seine verstorbene Mutter beleidigt worden. Die Polizei nahm daraufhin gleich mehr als 50 Demonstranten fest, Regierungsvertreter äußerten ihre Abscheu vor der „moralischen Verkommenheit“ der CHP und ihrer Anhänger. Auf X nahm İmamoğlu dazu Stellung: „Wir werden niemals unsere Mütter oder die Mütter unserer Nachbarn beleidigen. Sollte es die Schmähungen gegeben haben, entschuldige ich mich dafür.“

Mit dem Versuch, den Protest zu diskreditieren, reagiert die AKP auf erste Risse in ihrer eigenen Parteibasis und ihrer Wählerschaft. Viele AKP-Wähler und Wählerinnen äußern ihre Verwunderung darüber, dass ihr einstiges Idol immerzu von Demokratie redet, aber dann seinen demokratischen Konkurrenten wegsperren lässt. Der Bezirksvorsitzende der AKP von Tekirdag, einer Stadt westlich von Istanbul, ist deswegen zurückgetreten. Und erstmals seit Jahren hat sich auch der ehemalige Präsident, Abdullah Gül, ein früherer enger Weggefährte von Erdoğan, wieder öffentlich geäußert. Er riet zur Deeskalation, just als Erdoğan seinen Konkurrenten in U-Haft stecken ließ.

Am Mittwoch soll ein Vertreter İmamoğlus gewählt werden

Um die Bevölkerung und vor allem auch die AKP-Anhänger davon zu überzeugen, dass die Vorwürfe gegen İmamoğlu haltlos sind, bemüht die CHP-Führung sich jetzt um größtmögliche Aufklärung. Nach seinem Besuch bei İmamoğlu sagte Özel, der Bürgermeister fordere, dass die gesamte Anklage gegen ihn öffentlich gemacht werde und ein möglicher Prozess gegen ihn im Staatsfernsehen übertragen werden solle. Özel sagte vor Journalisten, wegen der angeblichen Korruption İmamoğlu hätte es bereits 2020 und 2023 Ermittlungen gegeben, die die Staatsanwaltschaft jedes Mal wegen Ergebnislosigkeit eingestellt habe.

Vor der Parlamentsfraktion der CHP, die am Dienstag ausnahmsweise nicht in Ankara, sondern in Istanbul tagte, äußerte sich Özel zu der angeblichen Zusammenarbeit mit „Terroristen“ vor den Kommunalwahlen im letzten Jahr. Man habe damals ganz offen mit der kurdischen DEM-Partei gesprochen. Die DEM-Partei habe gesagt, in Städten, in denen sie gute Chancen hätte, würde sie eigene Kandidaten aufstellen, in anderen Städten, in denen der Kandidat der CHP dafür bekannt sei, dass er Kurden nicht diskriminiere, würden sie dagegen auf eigene Kandidaten verzichten. Das sei, wie jeder wisse, in Istanbul der Fall gewesen.

Am morgigen Mittwoch soll im Istanbuler Stadtparlament nun ein Vertreter oder eine Vertreterin İmamoğlus gewählt werden. Der oder diejenige soll die Geschäfte führen, solange der gewählte Bürgermeister suspendiert ist. Im Gespräch dafür sind die Bezirksbürgermeisterin von Üsküdar, Sinem Dedetaş, und der Bezirksbürgermeister von Büyükcekmece, Hasan Akgün.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!