Proteste in Serbien: Jetzt bloß nicht die alten Fehler machen!
Die Protestierenden in Serbien fordern den Rücktritt des Präsidenten. Nun aber müssen sie aufpassen, nicht in die nationalistische Falle zu tappen.
D ie neue Protestgeneration in Serbien steht vor einer großen Frage, die sie bislang verdrängt hat: Wie hältst du es mit dem Nationalismus? Am vergangenen Samstag lief ein Ultimatum der Bewegung an Präsident Aleksandar Vučić ab, Neuwahlen auszurufen. Seither werden im ganzen Land Straßenblockaden errichtet, der Verkehr ist lahmgelegt.
Mit Besetzungen, kreativen Aktionen und basisdemokratischen Plena waren die Studierenden gestartet, um gegen Präsident Vučić zu demonstrieren, der Serbien in einen klientelistischen Einparteienstaat verwandelt und das Parlament entmachtet hat. Er kontrolliert Medien und Justiz. Die Korruption seines Systems fordert Menschenleben – etwa beim Einsturz des frisch renovierten Bahnhofsvordachs in Novi Sad mit 16 Toten.
Im Zentrum des Protests standen Rechtsstaat und Demokratie, und das traf auf breite Unterstützung in der Bevölkerung. Auch, weil schwierige politische Fragen ausgeklammert wurden. Nun versammelten sich letztes Wochenende rund 140.000 Menschen ausgerechnet am 28. Juni, dem Vidovdan (Veitstag), zur Großdemonstration in Belgrad. Ein zentraler Tag serbischer Geschichtsmythologie, getragen von Erinnerungen an die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 – eine Erzählung, die wie keine zweite für großserbische Ideologien instrumentalisiert wurde. Vučić wirft den Studierenden vor, vom Ausland gesteuerte „Terroristen“ zu sein. Ihre Antwort am 28. Juni: ein überschießendes Bekenntnis zu Volk und Vaterland auf der Bühne. Um den Präsidenten auf seinem eigenen Spielfeld zu schlagen, riskiert die Bewegung, selbst zu dem zu werden, was man bekämpft.
Die erste Rede hielt ein serbischer Student aus dem Kosovo. Mit traditioneller Šajkača – einer serbischen Kopfbedeckung – zitiert er in seiner Rede den Hitler-Verehrer Bischof Nikolaj Velimirović. Bei ihm heißt es sinngemäß, dass Serbien jahrhundertelang seine Männer opferte, um Europa vor dem Osmanischen Reich und dem Islam zu retten. Ein anderer Redner, ein Literaturprofessor, sprach vom „serbischen Integralismus“, man könnte auch sagen: Großserbien. Und ein Elektrotechnikprofessor behauptete, aktuell fänden „genozidale Pogrome“ gegen die Serben im Kosovo statt – eine Aussage ohne jede Grundlage. Es ist der altbekannte nationalistische Irrsinn eines Landes, das seine eigenen Verbrechen nie aufgearbeitet hat, dessen Bildungssystem völkisch indoktriniert ist und das seine politische Identität aus der Mythologisierung einer Schlacht von 1389 schöpft.
Zentrale Forderung der Proteste sind Neuwahlen. Anfangs wollte Vučić sie, jetzt nicht mehr – wohl aus Angst, trotz der üblichen Wahlbetrügereien zu verlieren. Die Studierenden planen eine eigene Wahlliste mit Professor:innen. Nach den Vidovdan-Reden ist zu befürchten, dass auch ultranationalistische Personen dort vertreten sein werden. Die Rednerliste wurde von einem Dachverband der Medienverantwortlichen der verschiedenen Fakultäten bestimmt – also von Studierenden selbst.
Es ist nicht überraschend, dass sich eine international kaum unterstützte Demokratiebewegung ins Nationale zurückzieht. Doch dieser Nationalismus spaltet tief. Viele Demonstrant:innen wollen keine Erlösungsfantasien im Namen des Serbentums – sie kämpfen für Demokratie und gegen Korruption, nicht für Nationalmythen. Und warum sollten sich Zivilgesellschaft und Menschen aus Nachbarländern weiter mit einer Bewegung solidarisieren, deren Rhetorik sich kaum von jener der Kriegstreiber aus den 90ern unterscheidet?
Dabei hatte der Protest ursprünglich integrative Ansätze: Studierende aus Novi Pazar – mehrheitlich muslimisch – besetzten ihre Universität und standen Seite an Seite mit ihren Kommiliton:innen. Bosniakische und serbische Flaggen wurden gemeinsam getragen. Die Diversität in der Kommunikation ganz nach vorne gestellt.
Nun ist eine neue Phase des Protests angebrochen. Am Vidovdan gaben die Studierenden nach Ablauf des Ultimatums symbolisch „grünes Licht“ für zivilen Ungehorsam. Mancherorts gehen Fußgänger einfach sehr langsam und immer wieder über Zebrastreifen. Doch es geht auch etwas rauer zu, manche sprechen deswegen von einer Radikalisierung der Bewegung – die jedoch fällt bisher relativ mild aus: Die Barrikaden bestehen oft aus Müllcontainern. Wenn die Polizei kommt, lässt man sie räumen und blockiert eine andere Ecke, um die Polizei in Bewegung zu halten.
Die Staatsgewalt reagiert mit Repression. Die Protestierenden in Belgrad stehen nach wie vor auf der Straße und demonstrieren für eine demokratische Erneuerung. Doch wer dabei auf Nationalismus setzt, bereitet den Boden für den nächsten autoritären Kleptokraten. Vučić ist nicht vom Himmel gefallen. Wer glaubt, nach ihm könne es nur besser werden, sollte sich erinnern, wer der Informationsminister der gestürzten Regierung von Slobodan Milošević war: Aleksandar Vučić.
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