Proteste gegen Sozialabbau: Sehnsucht nach dem Montag
Mehrere tausend Menschen aus ganz Deutschland demonstrieren gegen Hartz IV. Es sind die letzten Aktivisten der einst riesigen Montagsdemos. Viele Berliner hingegen schauen nur zu. Wo bleibt der heiße Herbst?
![](https://taz.de/picture/293761/14/sozialprotestRTR.jpg)
Regen, die ganze Zeit Regen. Fred Schirrmachers blaues Regencape klebt über seinem schwarzen Mantel, die Brille ist voller Regentropfen. "Wir brauchen Massenproteste statt Politikverdrossenheit", ruft Schirrmacher in die Masse. "Bieten wir dem neoliberalen Lumpenpack die Stirn." Es sind mehrere tausend, die am Samstag nach Berlin gekommen sind, um auf der 7. bundesweiten Herbstdemonstration "gegen die Regierung" und gegen Hartz IV zu protestieren. 7.000 zählt Schirrmacher. "Ein Erfolg."
Der Protest ist ein kleines Revival der Montagsdemonstrationen. Und Fred Schirrmacher ist einer ihrer Väter. Ende 2003, als SPD-Kanzler Gerhard Schröder seine Hartz IV-Reform ins Land wirft, steht Schirrmacher als einer der Ersten montags auf dem Alexanderplatz. "Erst waren wir 30, dann 120, dann 30.000", erinnert sich der 47-jährige Steuerfachangestellte. Heute bestehe der harte Kern aus 25 bis 30 Menschen, die sich allwöchentlich unter der Weltzeituhr träfen, sagt Schirrmacher. Er wolle das aber gar nicht gering schätzen. Die Ausdauer der Bewegung sei einzigartig, Hartz IV auch deshalb noch so ein großes Thema.
Schon am Samstagmittag sammeln sich die bundesweit angereisten Montagsdemonstranten am Hermannplatz, um von dort zum Alex zu ziehen. Parallel tut es ihnen ein Demozug von der Prenzlauer Allee aus gleich. In Neukölln flattern Montagsdemo-Banner aus Chemnitz und Heidelberg im Regen, Stahlarbeiter ziehen ihre gelben Helme ins Gesicht. "Über 100 Montagsdemo-Delegationen sind heute da", frohlockt eine Rednerin. Es sind die letzten Wackeren der großen Bewegung von 2004.
Die sechs Jahre Dauerprotest zeigen Wirkung. "Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unser Widerstand nicht", singen die Leute textsicher mit. Ein Liedermacher stimmt den "1-Euro-Blues" an. Schreckensgeschichten aus den Jobcentern werden mit Buh-Rufen quittiert. Für die "Stuttgart 21"-Proteste wird ein kurzer, solidarischer Schwabenstreich getrötet. "Es ist unglaublich, was sich die Regierung erlaubt", schimpft Karin Weber von der MLPD Darmstadt. "Stuttgart, Atompolitik, Hartz IV - alles gegen den Willen der Mehrheit."
Die Neuköllner huschen im Regen an der Demo vorbei in ihre Hauseingänge. "Die haben schon recht", sagt Hasan Ak. Leider habe er keine Zeit zum Mitdemonstrieren. Viel bringen würde das eh nicht. "CDU ist schlimm, aber die SPD hat Hartz IV gebracht." Auch Gerd Ohe betrachtet den Aufzug. Viele in seinem Freundeskreis hätten es satt, dass über ihre Köpfe entschieden wird. "Aber dann winken sie ab: Man kann eh nix verändern." Vielleicht laufe er ein Stück mit.
Unter einem Panzerknacker-Banner schüttelt Klaus, ein Berliner Lehrer und wöchentlicher Montagsdemonstrant, den Kopf. "Viele haben noch die Illusion, dass sie alleine über die Runden kommen." Dass man mit Reformen etwas bezwecken kann. "Was wir aber brauchen, ist ein grundlegender Wandel weg von der Macht des Kapitals."
Simon Teune, Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, sieht mehrere Ursachen für den verhaltenen Protest. Je schlechter die soziale Lage, umso geringer werde die Chance eingeschätzt, etwas erreichen zu können. "Dazu kommt eine soziale Stigmatisierung der Erwerbslosen von außen, die ihnen Pflichten, aber keine sozialen Rechte zuspricht." Dies zeige sich auch in der fehlenden Solidarisierung der Gewerkschaften mit den Montagsdemonstranten. "Dass die großen Proteste 2004 letztlich erfolglos blieben, ist eine ernüchternde Erfahrung, die im Gedächtnis bleibt", so Teune.
Auch Montagsdemo-Veteran Fred Schirrmacher sieht die Schwierigkeiten. Viele seien vom ständigen Suggerieren, dass man nichts machen könne, "wie gelähmt". Zudem würden Gewerkschaften und Linkspartei die Montagsbewegung im Stich lassen. "Erst rufen sie zum heißen Herbst auf, dann verhindern sie ihn." Schirrmacher klingt jetzt wütend. Man müsse kämpfen. Die DDR sei ja auch nicht "von heute auf morgen weg gewesen".
Dann geht er auf die Bühne. "Die Zeit ist reif für eine neue, starke Montagsbewegung", ruft er unter Applaus. "Venceremos, wir werden siegen!"
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