Proteste gegen Regisseur Robert Lepage: Ein Akt der Überschreitung
Regisseur Lepage wollte von Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung erzählen – ohne ihre Beteiligung. Wer darf welche Geschichte erzählen?
Die Nachrichten ließen einen stutzen: Ausgerechnet der kanadische Regisseur Robert Lepage musste innerhalb kurzer Zeit zwei Produktionen absetzen, nachdem diese als politisch einseitig kritisiert worden waren: Anfang Juli zog das Montreal International Jazz Festival seine Inszenierung „Sláv“, die sich mit der afroamerikanischen Sklavereierfahrung auseinandersetzte, zurück, unter anderem weil auf der Bühne fast nur weiße Darsteller*innen standen.
Mitte desselben Monats erschien ein offener Brief von Kevin Loring, einem indigenen Schauspieler und Dramatiker, unterzeichnet von über 500 Unterstützern, der Lepages neue, in Proben befindliche Produktion „Kanata“ heftig kritisierte.
Die Produktion, die sich mit der gewaltsamen Siedlungsgeschichte und den Verbrechen gegenüber der indigenen Bevölkerung beschäftige, schreibe, weil sie keine indigenen Künstler*innen beteilige, deren Marginalisierung fort.
Robert Lepage, dessen Theater lange den Ruf genoss, gerade das Hybride der Kultur im Einwanderungsland Kanada gut darzustellen, und die extra aus Paris angereiste Ariane Mnouchkine, deren Théâtre du Soleil die Inszenierung koproduzierte, bemühten sich um Schadensbegrenzung.
Wer spielt Hamlet?
Allerdings ließ eine stundenlange Diskussion nur die Unversöhnlichkeit der beiden Positionen deutlicher werden: Aufseiten der indigenen Künstler*innen die Klage, wieder einmal werde die eigene Geschichte von anderen erzählt. Die Aktivistin Maïtée Saganash spitzte zu: „Sorry, Robert Lepage, but we don’t need you to speak on our behalf.“
Dem gegenüber standen Lepage und Mnouchkine, die betonten, dass in die Rolle eines/r anderen zu schlüpfen, ein theatrales Grundprinzip sei, oder wie Mnouchkine in der New York Timeszitiert wird, man müsse nicht Däne sein, um Hamlet spielen zu können. Lepage beschrieb die Angriffe sogar als kulturelle Zensur.
Aber, sollte uns das in Deutschland überhaupt interessieren? Hat dieser Konflikt denn – über eine allgemeine intellektuelle Faszination hinaus – irgendeine Bedeutung für uns? Und ob.
Die Auseinandersetzung ist symptomatisch für eine gegenwärtige intellektuelle und ästhetische Krise, die deutliche Bezüge auch zur gegenwärtigen politischen Konstellation zeigt.
Kulturelle Aneignung
Zunächst einmal erinnert es an einen symbolischen Konflikt, der sich 1985 ereignete, als Peter Brook mit der monumentalen Inszenierung „Mahabharata“ seine Lesart des indischen Mythos präsentierte.
Während die Produktion beim westlichen Publikum als Meilenstein des interkulturellen Theaters und als Utopie der Kulturverständigung gefeiert wurde, kritisierte etwa der indische Intellektuelle Rustom Bharucha die Produktion als kolonial und beklagte Brooks Aneignung indischer Stoffe und Formen, die nicht an einem kulturellen Dialog interessiert sei, sondern den eigenen Bedürfnissen und Anforderungen folge.
Auch der Fortgang der Ereignisse ist symptomatisch, denn während die Auseinandersetzung zu einem Lehrstück über die (Un-)Möglichkeit interkultureller und postkolonialer Kunst wurde, fuhr Brook nachgerade ungerührt in seiner künstlerischen Arbeit fort. So kehrte er 2015 zum Mahabharata zurück – in einer um ein Vielfaches gekürzten Variante unter dem Titel „Battlefield“. „Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter“, möchte man meinen.
Der Konflikt um Lepage ist aber nicht einfach nur ein Wiedergänger dieses früheren Konflikts, sondern ist in einem historisch-politischen Kontext verankert, der die Spannung zusätzlich erhöht. Auf der einen Ebene hat das postdramatische Gegenwartstheater mit seiner Begeisterung für das Dokumentarische – symbolisiert in der Rede vom „Experten des Alltags“ – eine ästhetische Form geschaffen, in der die Erzählung der Bühnenfiguren biografisch durch die Darsteller*innen verbürgt ist.
Ein wichtiges Moment von Kunst
Man muss nicht Thomas Bauers Polemik vom „Authentizitätswahn“ in allen Punkten teilen, um ein Unbehagen zu verspüren: Zum einen, weil die Professionalität der Darsteller*innen auch einen Schutz für sie darstellt, zum anderen weil die Gefahr des Type-Casting, das heißt der Besetzung nach der eigenen Biografie, übermächtig ist und eine Künstler*in, die „nur“ über sich reden dürfte, auch in ihrer Freiheit eingeschränkt wäre.
Man gäbe ein wichtiges Moment von Kunst preis, stellte man grundsätzlich die Legitimität des Sprechens über Nichterlebtes unter Generalverdacht. Wir verlören die Geschichten um Theben, Helsingör oder Noras Heim, wenn wir eine solche Selbstverzwergung zuließen.
Gleichzeitig gilt es aber auch anzuerkennen, dass ästhetische Mittel und Verfahren eben auch eine ethische und politische Dimension haben. In der Stimme eines/r anderen zu sprechen, ist immer ein Akt der Überschreitung.
Dies wird besonders deutlich, wenn man auf die Geschichte des bundesdeutschen Dokumentartheaters und seine Bedingungen blickt. Stücke wie Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ entstanden im Kampf mit dem bleiernen Schweigen der bundesdeutschen Gesellschaft und sie nutzten dokumentarisches Material, weil es undenkbar schien, sich der historischen Erfahrung der Schoah mit den Mitteln schauspielerischer Identifikation annähern zu wollen.
Zeitzeugenschaft und Erinnerungskultur
Im Sinne einer postmodernen Gerechtigkeitskonzeption (W. Welsch) erschien es wichtig, den Opfern eine Stimme zu geben und diese hörbar zu machen – ohne sie sich naiv einzuverleiben.
Die Zeitzeugenschaft – auch und gerade jenseits der Bühne – wurde zu einem Grundpfeiler der Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts, gerade im Umgang mit gesellschaftlichem Unrecht und Verbrechen; Beispiele hierfür sind etwa die Truth Commissions in Südafrika nach dem Ende der Apartheid oder auch die kanadische Auseinandersetzung mit der aggressiven Siedlungspolitik.
Gleichzeitig erleben wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass dieses Modell in eine Krise gerät, weil die Zeitzeugen immer älter werden und sterben. Jan Assmann hat dies als den Übergang vom kommunikativen Gedächtnis, das alles abdeckt, was biografisch noch erzählt werden kann, zum kulturellen Gedächtnis beschrieben. Wo Historisches nicht mehr als persönlich Erlebtes geschildert werden kann, tritt ästhetische und mediale Modellierung notwendigerweise an die Stelle.
In der gegenwärtigen politischen Konstellation aber verläuft dieser Prozess krisenhaft: Zum einen, weil es – wie der Fall Lepage zeigt – kein „einfaches“ Erzählen gibt. Eine naive Aneignung im Sinne bloßen Rollenspiels metaphorisiert historische Leiderfahrung und macht sie zu einem vagen, allgemeinen Gefühl.
Rechte Aggression
Wer aber das Wagnis unternimmt, in einer/s anderen Stimme zu sprechen, der muss sich auch in Frage stellen lassen. Lepages Klage über kulturelle Zensur aber führt zu einer kulturellen Immunisierung, die keinen weiteren Dialog ermöglicht.
Zum anderen aber – und dies macht die Konstellation so gefährlich – gewärtigen wir auch eine Aneignung des „Rechts der marginalisierten Stimme“ durch aggressive, meist rechtspopulistische Kräfte, die sich selbst als Opfer stilisieren.
Um dies tun zu können, entwerfen sie das Szenario einer drohenden oder stattgefunden kulturellen Enteignung („Austausch der Bevölkerung“) beziehungsweise einer repressiven Diskurskontrolle („Das muss man doch noch sagen dürfen …“) und einer feindselig-übermächtigen Medienlandschaft („Lügenpresse“ plärrt es auf der einen Seite des Atlantiks, „Fake News“ tönt es von dort zurück).
Filterblase Social Media
In dieser Selbstinszenierung werden aggressive Ausgrenzung („Verteidigung des Abendlands“) und Schmähung des „Gegners“ zur vermeintlich legitimen Selbstverteidigung.
Ihren sozialen Ort finden diese Auseinandersetzungen in den sogenannten sozialen Medien, stabilen Blasen der Selbstbestätigung, in denen kein Widerspruch und auch keine Auseinandersetzung zu erwarten ist. So entstehen hermetische Sphären der Gleichgesinnten, die sich nicht mit anderen Meinungen auseinandersetzen müssen. Programmatisch verkehrt dieser Diskurs die Vorstellung von Vielstimmigkeit und Pluralismus in sein Gegenteil.
Was auf dem Spiel steht, und das lässt sich an der Auseinandersetzung um Lepage gut ablesen, ist die Idee des öffentlichen Raumes als Ort symbolischer Auseinandersetzung. In der westlichen Vorstellung hat das Theater sehr prominent dieses Forum geboten – metaphorisch-ideell und ganz konkret.
Worte und Widerworte
Hinter der Unversöhnlichkeit, mit der sich im Falle Lepages die Positionen gegenüberstehen, wird erkennbar, wie kostbar und prekär der Raum symbolischer Auseinandersetzung von Kunst und Theater ist: Im Benennen der Widersprüche vollzieht sich offen und sichtbar das Ringen um die Fülle von Geschichte(n), die unsere Gegenwart ausmachen.
Auszuhalten und wahrzunehmen, dass das eigene Sprechen nicht ohne Antwort und auch nicht ohne Widerworte bleibt, ist eine Grundbedingung pluralistischer Gesellschaften. Die Alternative hierzu sind die selbstbezogenen Blasen chauvinistischer Selbstbestätigung, die das andere und auch die andere Meinung immer schon als Feind betrachten.
Will man diesen das Feld nicht überlassen, dann gilt es, um den Raum des Theaters als Szene des Vielstimmigen und Widersprüchlichen zu ringen.
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