: Protestbewegung und Sexrevolte
■ Das inzwischen weit verbreitete Bild vom 68er Macho, der sein sexuelles Imponiergehabe allseitig austobte, erfährt durch Ulrike Heiders Erinnerungen an 68, die Theoreme und die Praxis von damals und deren auch hier vielgestaltige Folgen eine deutliche Korrektur.
Ulrike Heider
Die antiautoritäre Protestbewegung der späten sechziger Jahre, von den damaligen Herrschenden gefürchtet wie die Sünde, ist noch heute Gegenstand heimlichen Grauens aller Staatsdiener, Politiker und Etablierten bis hin zu den Grünen. Sorgfältig werden Angehörige der 68er-Generation aus Universitäten und anderen Institutionen herausgehalten. Nicht einmal die peinlichen Anbiederungsversuche eines Berliner Soziologen waren geeignet, den Makel seiner Apo -Vergangenheit zu tilgen. Er hätte sich dafür auf den Kopf stellen können, aber Professor durfte er nicht werden. Wen wundert da noch die Einschätzung eines konservativen Politikers, der den historischen Einschnitt des Jahres 1968 für tiefer hält als den von 1933? Dabei ist fast nichts und niemand von 1968 übriggeblieben. Hochschul- und Bildungsreform wurden zurückgepfiffen, liberale Gesetzesänderungen revidiert und reformerische Errungenschaften des Sozialstaates fallengelassen. Der progressive Wind im Kulturbetrieb hat sich längst gelegt, und der Liberalisierung der Sexualmoral ward mit der scharfen Waffe Aids endgültig der Todesstoß versetzt. Che Guevara ein
Pin-up-boy
Seit mindestens zehn Jahren statt dessen werden die einstigen Beteiligten nicht müde, sich von ihren Jugendsünden zu distanzieren und sich durch eifrige Demonstrationen bürgerlicher Wohlanständigkeit reinzuwaschen. Das Rätemodell war nichts als die Illusion einer Jugendlichengeneration. Der Antiimperialismus beruhte auf dem Schuldgefühl des weißen Mannes. Che Guevara war ein bärtiger Pin-up-boy. Der Antiparlamentarismus war undemokratisch, soziale Gerechtigkeits- und Gleichheitsforderungen illiberal. Die antiautoritäre Erziehung hat uns den oralen Flipper eingebrockt, und die Emanzipation hat die Frauen vermackert. Der Alltag der Protestbewegung war kulturfeindlich und antihedonistisch. Kurz, die ganze Bewegung verbissen, inhuman und totalitär. Warum dieser Ausgrenzungs- und Distanzierungszirkus? Was war so gefährlich an der 68er-Bewegung? Wie konnte dieser meist als bürgerlich gehandelte Aufstand zu einem so zählebigen Gespenst deutscher Bürger werden? Bohemien Bakunin
Ein Grund dafür scheint mir in der libertären und kulturrevolutionären Energie dieser Bewegung zu liegen, in ihrem hedonistischen Radikalismus. Die praktische Verbindung von politischen und individuellen Emanzipationszielen, die der Gedankenverknüpfung von Marxismus und Psychoanalyse entsprach, war ein Sprengstoff, der heute noch wirksam ist. Die Gesellschaft und sich selbst von Grund auf zu verändern, soziale Gerechtigkeit und persönliches Glück zu verwirklichen, staatliche und familiäre Autorität zu bekämpfen, ist in der Geschichte der sozialen Bewegungen nur selten gleichzeitig versucht worden. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts standen sich in diesem Punkt zwei Lager gegenüber. Hier die Kulturrevolutionäre des Frühsozialismus, die Fourieristen und St. Simonisten mit ihren nur wenig vermittelten Forderungen nach freier Liebe und Frauenemanzipation. Dort die pragmatischen Sozialrevolutionäre aus den Arbeitervereinen, die in der Frauenfrage ignorant und ansonsten puritanisch wie die Quäker waren. Während der ersten Internationale waren es in Europa der lebenslustige Bohemien Bakunin mit seiner Idee von der Internationale als Keimzelle der neuen Gesellschaft und Marxens im Vergleich dazu eher realpolitisch eingestellte Parteigänger. Freie Liebe
In den USA konkurrierten die als besonders sittenspießig geltenden deutsch-amerikanischen Marxisten unversöhnbar mit der feministischen Freeloverin Victoria Woodhull, der Exponentin eines deftigen Sittenskandals. Mit dem Rausschmiß von Bakunin und Woodhull aus der ersten Internationale war die Kulturrevolution aus der Politik der Fraktionssieger und deren Erben verbannt. Die Forderung nach sofortiger Abschaffung von Ehe und Familie wurde zur Spezialität von Individualanarchisten, Libertins und unpolitischen Spinnern. Nur die russischen Revolutionäre, die Erben des Nihilisten und Fourier-Interpreten Tschernyschewsky, denen noch keine philiströse Bourgeoisie im Nacken saß, entgingen der Verbürgerlichung sozialistischer Sexualmoral für kurze Zeit. Die Blüte der russischen Kulturrevolution war von frühsozialistischen Emanzipationsansprüchen geprägt. Die Ehegegnerin und Frauenrechtlerin Alexandra Kollontai sorgte für die liberalste Familien- und Moralgesetzgebung, die es jemals gegeben hat. Jugendliche experimentierten mit der Promiskuität und gründeten Wohnkommunen. Es gab antiautoritäre Erziehungsinstitutionen, und die Psychoanalyse galt als Motor zur Entstehung des neuen Menschen. All dem wurde bis 1936 unwiederbringlich der Garaus gemacht. Und spätestens nach dem Untergang der Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg hat keine linke Bewegung oder Partei mehr die persönliche Emanzipation, die Abschaffung von Ehe und Familie oder gar die freie Liebe im Munde zu führen gewagt, bis zu den antiautoritären Protestbewegungen von 1967/68. Sexuelle Revolution
Noch verschriener als andere Erbstücke der Studentenbewegung sind heute ihre sexualemanzipatorischen Bestrebungen. Das vergleichbar mildeste Verdammungsmittel dazu lautet: Großmäulige Naivlinge hätten geglaubt, die Gesellschaft auf sexuellem Wege ändern zu können. Dann gibt es jene Kritiker, die sich an ein antiseptisch-sportives Sexualideal zu erinnern glauben, und den Mangel der Protestbewegung an Geilheit, Lüsternheit, Geschlechterdifferenz und Liebesgewalt rügen.
Gänzlich vom Lüstern-Bösen ist statt dessen die Sexrevolte in den Augen vieler Feministinnen. Ein gewattätiger Schrecken für die beteiligten Frauen und der beste Nährboden für sadistische Pornographie sei die ganze Studentenbewegung gewesen. Wie einst in der 'Bild'-Zeitung kann man heute in 'Emma‘ lesen, daß die Frauen damals „im Kommunebett jedermann sexuell zur Verfügung stehen“ mußten (Nr. 10/87). Das entspricht den klassischen Unterstellungen von Sittenverfall und allgemeiner Prostitution bei den Kommunisten, dem Blick durch die bürgerliche Bordellbrille. Schon so manches Mal in der Geschichte haben sich Sozialistinnen und Feministinnen von solchen Zuschreibungen einschüchtern und zur Imitation bürgerlicher Wohlanständigkeit verleiten lassen. Rudelbumsen
Avantgardistinnen der Emanzipation wie Georges Sand, Luise Aston und Victoria Woodhull wurden so lange als Huren und geile Hexen diffamiert, bis ihre frauenbewegten Kolleginnen und Nachfolgerinnen darauf hereinfielen. Einmal in der Defensive, gaben letztere sich dann Mühe, sogar die Bürgerinnen an Tugendhaftigkeit zu übertreffen. So mögen auch die 68er 'Bild'-Zeitungslügen vom allnächtlichen Rudelbumsen oder Kommunarden mit ihren nimmersatten Kommunistenweibern das verzerrte Geschichtsbild der heutigen Feministinnen produziert haben: Der Weiberaufstand von 1968 wird als Vorläufer der Antipornographiebewegung interpretiert. Die Liberalisierungsbestrebungen zur Pornographiegesetzgebung in den siebziger Jahren erscheinen als groß angelegtes antifeministisches Komplott. Die weitere Geschichte wird als Titanenkampf zwischen lichten Antipornographiefeministinnen und dämonischen Umweltfürsten geschrieben. Das Patriarchat reduziert sich auf eine Verschwörung linker und liberaler Männer, die sich die Pornohersteller als Rächer an der neuen Frauenbewegung gedungen haben. Im Kontrast dazu werden konservative Politiker wie zum Beispiel der Abtreibungsgegner Heiner Geißler, der in gutdeutscher Tradition die Würde der Frauen im Munde führt, lobend erwähnt. Um so bösartiger wiederum entlädt sich feministischer Zorn auf sogenannte Kollaborateurinnen, linke und liberale Frauen, die dem Antipornographiefeminismus kritisch gegenüberstehen. Für die Zukunft schließlich wird ein weltweiter sexualsadistischer Holocaust der Männer an den Frauen prophezeit, dem mit neuen Pornographiegesetzen und hohen Vergewaltigerstrafen Einhalt geboten werden soll. Was soll ein junger Mensch davon halten? Muß sie oder er sich nicht fragen, was vorher war, vor den im Kommunebett überwältigten Frauen und der geschmähten Liberalisierung der Sexualmoral? Waren das die besseren Zeiten? Gefährdung des Hymens
In dieser pornofreien guten alten Zeit wachten Eltern, Lehrer und Mitschüler Seite an Seite mit den Zensoren und Berufstugendbolden der Adenauer-Ära über die Unschuld der (vor allem bürgerlichen) Mädchen. Die Keuschen selbst durften wegen einer möglichen Gefährdung des Hymens nicht einmal Tampons benutzen. Kaum eine wagte ihre Unschuld vor dem Abitur aufs Spiel zu setzen, denn der Preis konnte hoch sein. Über Verhütungsmittel wußten die Gymnasiastinnen nichts, wohl aber über gleichaltrige Sünderinnen, die vom Vater verprügelt und von der Mutter Hure geschimpft wurden. Oder von jenen, die sich schwanger das Leben nahmen oder beim abtreibenden Kurpfuscher nur knapp mit demselben davonkamen. Gehört hatte man auch von solchen, die die Schule verlassen mußten oder gar im Umstandskleid von der Polizei aus dem Unterricht abgeführt wurden, zum Schutz der Sittlichkeit ihrer Mitschüler. Das Gros der Knaben litt nicht minder unter Angst vor den bösen Folgen der Onanie, mit denen Großväter, Väter und Kirchenmänner noch immer drohten. Nur wenige behalfen sich mit heimlichen Puffbesuchen oder sexuell motivierten Reisen in liberale Nachbarländer wie England und Schweden. Die Mutigsten ließen sich auf Affären mit jungen Verkäuferinnen und Fabrikarbeiterinnen ein, denen die Unschuld bekanntlich wenig wert war. Knutschparties
Im Biologie- oder Religionsunterricht wurden diese Jugendlichen „aufgeklärt“. Die eigens zu solch peinlichem Zweck bestellten Psychologen oder Pfaffen sprachen dann mit leuchtenden Augen von der Überlegenheit der seelisch -geistigen Liebe gegenüber der rohen Fleischeslust und warnten vor der grauenhaften Wirkung der (längst mit Penizillin besiegten) Geschlechtskrankheiten. Die Worte solcher Warner noch in den Ohren, traf sich die gymnasiale Jugend bei sogenannten Knutschparties. In der Schule stand das Abitur auf dem Spiel, wenn man mit dem anderen Geschlecht zusammen im gleichen Zimmer erwischt wurde. Im elterlichen Partykeller aber wurde jede unbeaufsichtigte Minute genutzt, um sich körperlich nahe zu kommen. Stumpfsinnig traten die umschlungen stehenden Pärchen zu schmalziger Musik stundenlang von einem Bein aufs andere. In den Sofaecken suchten unsichere Gymnasiastenhände erotische Erfüllung in Büstenhaltern und Strumpfgürteln. Die stets um ihre toupierten Frisuren bangenden Mädchen gaben sich sinnlich lockend und verführerisch wie die Sexbomben im Kino. Früher oder später aber entwanden sie sich beleidigt und verfielen in einen eher den Heimatfilmen abgelauschten Habitus der bedrängten Unschuld. Sie taten gut daran, denn andernfalls wären sie als leichtzuhabende Flittchen unten durch gewesen. In der guten alten Zeit, die noch nicht von linken Männern angeferkelt war, triumpfierte die Doppelmoral und blühte der Frauenhaß. Sexualverbot, Geschlechtertrennung und die Warnungen vieler Eltern vor dem Leben und Karriere zerstörenden bösen Weib prägten die hoffnungsvollen jungen Männer. Abgeklärt wie verbitterte Greise trugen sie ihre Überzeugung von der Minderwertigkeit des anderen Geschlechts zur Schau. Viele schwelgten in einem männerbündelnden Kulturelitarismus, ein Habitus, der heute schamlos wiederkehrt. Klassenverräter
Für alle aber, die sensibler waren, für die Außenseiter beiderlei Geschlechts, für Gedankenverbrecher wider die biedermännische Doppelmoral, für solche, die schulfaul und nichtsnutzig waren, den Religionsunterricht schwänzten und nicht zur Bundeswehr wollten, für alle die gab es Objekte der heimlichen Sehnsucht. Da waren die düsteren Existentialisten, die in Paris der Libertinage frönten, nur sich selbst und die eigene Freiheit im Sinn. Juliette Greco ohne Büstenhalter, barfuß mit langem schwarzen Haar im langen schwarzen Kleid. Oder die lässigen Beatniks aus New York und San Francisco, die dort mit ihren Oden an Sex, Phantasie und Rausch die Bürger schreckten. Räumlich näher, aber durch die Klassenschranken nicht minder fern, lag die vergleichbar größere Freiheit der Lehrlinge. Dort im Proletariat, wo früh verdient und nichts geerbt wurde, da war die Macht der Eltern und Lehrer beschränkt. Eine stille Identifikation nonkonformistischer Oberschüler mit gleichaltrigen Proletariern ging der späteren Linksentwicklung voraus. Von vielen beneidet wurden auch die seltenen Klassenverräter, wilde junge Männer aus besserem Hause, die auf das Abitur pfiffen, ihre Familien nach dramatischen Krächen enterbt verließen und eine Lehre machten.
An den Universitäten ging es bis in die späten sechziger Jahre kaum freier zu als an den Gymnasien. Eine Umfrage von 1966 ergab einen Anteil von 66 Prozent Jungfrauen unter den Studentinnen. Die meisten wohnten zu Hause, denn es war nicht üblich, das Elternhaus vor der Ehe zu verlassen. Wer auswärts studierte, litt unter schnüffelnden Zimmerwirtinnen. Kein Mietvertrag wurde ohne die Klausel vom verbotenen Damen- oder Herrenbesuch abgeschlossen. Als Begründung diente stets der Kuppeleiparagraph, auch als er schon abgeschafft war. Um die Pille ohne Trauschein zu bekommen, mußte man zu stadtbekannten Nuttenärzten gehen und sich entsprechend behandeln lassen. Dazu kamen eigene moralische Skrupel beim bloßen Gedanken an gefahrlose Liebesfreuden, meist in Form puritanischer und antifeministischer Ideologien, die sich um den Reiz des Verbotenen rankten. Moralverängstigte Studentinnen fürchteten nach einer Liebesnacht, vom Verlobten nicht mehr geheiratet zu werden. Und schnöselige Kommilitonen behaupteten, das Risiko der Schwangerschaft gehöre unverzichtbar zum sexuellen Lustgewinn. Obertugendbold
Seit Beginn der sechziger Jahre erhob sich die Sexwelle in den Medien und wurde zum unaufhaltsamen Strom. Jeder Zentimeter nackter Haut wurde in zähem Ringen mit der Zensur erkämpft. Verklemmte Sexartikel füllten die Illustrierten. In bestimmten Künstler- und Intellektuellenkreisen kam damals ein nicht minder verdrückter, meist rein theoretischer Libertinismus auf. Mehr oder weniger heimlich verschlang man dort die Skandalbücher von Henry Miller, D. H. Lawrence und Günter Grass. De Sade erlebte mehrere Neuauflagen, sein frommer Schüler Georges Bataille ward ausgegraben und Jean Genet heilig gesprochen. Auch die faschistoiden Antifeministen Julius Evola und Henry de Montherlant hatten ein come back. Gleichzeitig erlebten die Sittenwächter Glanzzeiten, jene ungleichen Brüder der Libertins, die damals Männer waren und vor allem gegen „Schweinereien“ in der zeitgenössischen Kunst wie Ingmar Bergmans Onanieszene in „Das Schweigen“ anstänkerten. Adolf Süsterhenn hieß der Obertugendbold und Held der damaligen Antipornographiekampagnen, der Initiator der „Aktion saubere Leinwand“ und der „Bewegung gegen Schmutz und Schund“. Zusammen mit dem NS-belasteten bayerischen Kultusminister Mauz machte er sich für eine Gesetzesinitiative zwecks Einschränkung künstlerischer Freiheit stark. Zu leiden hatten unter solchen Kampagnen vor allem die Jugendlichen, über deren Sittlichkeit man nun im erotisch aufgeheizten Klima um so strenger wachte. Forderungen nach mehr Jugendlichkeit der Jugend, der man das verächtliche Etikett 'silent generation‘ angehängt hatte, wurden laut. Als Inbegriff der Jugendlichkeit galten patriotische Jungmännervereine des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die deutschen Wandervögel der Jahrhundertwende, keusch und unpolitisch um jeden Preis.
Sittenstreng und obrigkeitshörig
Das Jahr 1964 brachte nicht nur den Oben-ohne-Sommer, sondern auch die Auschwitzprozesse, Stunde der Wahrheit für deutsche Biedermänner der Süsterhenn-Republik. Eine Mörderbande waren diese Moralisten einst gewesen, denen der Anblick nackter Frauenbrüste unerträglich war. Das mit Sexwelle und Libertinismus nur mühsam integrierte Bedürfnis nach Enthüllung des Verschwiegenen und Verborgenen erhob sich allenthalben. Die 'silent generation‘ erwachte jäh aus ihrem Wohlstandsschlaf und forderte Aufklärung über unterschlagene Geschichte und verbotene Sexualität. Bestätigung und Unterstützung fanden die Jugendlichen in der Vätergeneration nur bei den Emigranten und Opfern des Naziregimes. Wilhelm Reich, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Alexander Mitscherlich, sie alle beschrieben den typischen Faschisten als ebenso sittenstreng wie obrigkeitshörig, als Produkt nicht nur der ökonomischen und politischen Bedingungen, sondern auch der autoritären und sexualfeindlichen Familienverhältnisse. Eben diese Verhältnisse zu verändern, wurde zum erklärten Ziel einer neuen, unkommerziellen Sexwelle in deutschen Landen, mit ergötzlichen Sittenskandalen an Provinzgymnasien und bürgerschreckenden Happenings der Berliner Liebeskommunen. Die beginnende Schülerrevolte und die Berliner Kommunen tendierten zwar zum unpolitisch-verselbständigten Umgang mit ihrer Sexualpolitik wie viele Kulturrevolutionäre vor ihnen. Ihre Ideen aber wurden von der gleichzeitig entstehenden Bewegung gegen Notstandsgesetze, Vietnamkrieg und Kapitalismus übernommen. Freiheit vom Sexualverbot
In den politischen Studentenkreisen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre hatten Frauen und Männer den Anspruch, sich als Gleiche zu begegnen, Eheschließung und Familiengründung zu verweigern und die bürgerliche Doppelmoral zu überwinden. In Frankfurt eroberte sich der SDS ein Studentenheim, das „Kolbheim“ am Beethovenplatz. Die sechseinhalb Quadratmeter kleinen Zimmer boten die ersehnte Freiheit vom Sexualverbot der Eltern und Zimmerwirte. Die geräumigen Küchen wurden zu Kommunikationszentren, und im sogenannten Vortragssaal fand jeden Samstag die SDS -Mitgliederversammlung statt. Nach beendeter Diskussion begaben sich alle ein Stockwerk tiefer in einen bunkerartigen Keller, an dessen Wänden zeitgemäße Graffiti prangten. Das war der berühmt-berüchtigte Kolbkeller, der Ort, an dem sich die Paare der freien Liebe in immer neuen Variationen bildeten. Anstelle der langweiligen Stehbluesparties im Zeichen des Schuldgefühls fanden hier rauschende, hedonistische Feste statt. Quälende Dauerknutschereien und der obszöne Männergriff unter den hochrutschenden Frauenrock gehörten zur Vergangenheit. Wer vögeln wollte, ging und tat es, bei hellem Licht und ohne lüsterne Entkleidungszeremonien. Bis in die frühen siebziger Jahre traf sich samstags das ganze linksradikale Frankfurt im Kolbkeller. Fast alle fanden dort zur freien Liebe. Politisch diskutieren, Bier trinken, Haschisch rauchen und Bettgenossen suchen schloß sich nicht aus. Wer kommunizieren wollte, fand reichlich Gesprächspartner. Wer Sex wollte, bekam ihn. Wer nicht wollte, mußte nicht. Es ging human und tolerant zu. Wenn im Morgengrauen die Bar schloß, standen am Ausgang die, die noch allein waren und das nicht bleiben wollten. Die später von Feministinnen behauptete sexuelle Herrschaft der Genossen über die Genossinnen hat es nicht gegeben. Zwang war etwas in der damaligen Moral extrem Verpöntes. Ganz im Gegenteil formulierten die Genossinnen Sexualität als Frauenrecht und verhielten sich entsprechend aktiv. Daß die sich daraus ergebende Praxis nicht immer befriedigend sein konnte, versteht sich von selbst. Das promiskuöse Sexualleben aber brachte alles andere als gefügige Frauen hervor. Potenzprotzender Primitivismus
Erstens waren die großen Unterschiede im männlichen Bettverhalten an sich schon lehrreich. So manche, die sich für frigid gehalten hatte, merkte nun, daß es nicht an ihr gelegen hatte. Zweitens sprachen die Genossinnen untereinander über ihre Erfahrungen und klärten sich gegenseitig über alle Details der sexuellen Praxis auf. Man ging davon aus, daß die meisten Frauen von ihrer Sozialisation her stärker gehemmt waren als Männer. Daraus wurde ein Recht auf besondere Bemühungen der Genossen abgeleitet. Potenzprotzender Primitivismus im Bett war unbeliebt. Zärtliche und technisch versierte Liebhaber dagegen wurden weiterempfohlen. So verdinglicht das heute klingen mag. Es gab Sternstunden antizipatorischer Menschlichkeit und Solidarität. Dann zum Beispiel, wenn eine Genossin ihrer von negativen Erlebnissen frustrierten Freundin empfahl, mit dem eigenen Lebensgefährten zu schlafen, und danach tatsächlich nicht eifersüchtig wurde. Trotz der beschriebenen Parxis wurde Promiskuität als solche in der Protestbewegung nur selten als Patentrezept oder Endziel der Emanzipation betrachtet. Der weit verbreitete schnelle Partnerwechsel galt als aufklärerische Bereicherung, diente der Entdeckung individueller Sexualwünsche und befriedigte nicht zuletzt eine Art purgatorisches Bedürfnis. So gründlich wie möglich wollte man sich von all der Prüderie befreien, unter deren Fluch man aufgewachsen war. Die Parole „Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ stammt nicht aus der Sexrevolte, sondern war eine der typischen Spießerprojektionen dieser Zeit. Patriarchalische Tücke
Natürlich konnte das Patriarchat in der Protestbewegung nicht abgeschafft, sondern höchstens theoretisch problematisiert werden. Da waren Frauen, die sich in konventionellster Weibermanier um prominente Linke und Obergenossen rissen und sich keiner Demutsgeste schämten, um solche Männer an sich zu binden. Und obwohl die meisten linken Männer weniger sexistisch waren als damalige oder heutige rechte, gab es auch jene Aktivisten, die ihre Genossinnen als unbezahlte Sekretärinnen zu mißbrauchen versuchten. Nur hatten sie damit auch vor dem Weiberaufstand keineswegs immer Erfolg. Eine historische Lüge ist es und eine Beleidigung vieler engagierter und wehrhafter Genossinnen von damals, heute zu behaupten, daß die Protestbewegung hauptsächlich aus autoritären, geilen Männerböcken und sexuell willigen, Flugblatt-tippenden Frauenopfern bestanden habe. Erstmals seit dem Ende der Weimarer Republik bot sich hier den Frauen eine Chance, aus der konventionellen Frauenrolle herauszutreten. Wenn das zunächst nur wenigen gelang, so spricht das gegen Kapitalismus und Patriarchat im allgemeinen und gegen bestimmte Männer im besonderen, aber nicht gegen die Protestbewegung. Hier hatten die Frauen mit Problemen zu kämpfen, die sich aus dieser Chance erst ergaben. Immer wieder in der Geschichte, wenn sich Frauen Rechte nahmen, die vorher nur Männer innehatten, mußten sie mit neuen Zwängen und neuer patriarchalischer Tücke kämpfen. So ging es den Proletarierinnen mit der Fabrikarbeit. Wie die Männer werden sie seither der Brutalität des kapitalistischen Leistungsprinzips unterworfen und müssen die Hausarbeit trotzdem meist allein machen. Nicht anders im Mittelstand. Kaum gab es die ersten tüchtigen Lehrerinnen und Ärztinnen, da hefteten sich schon jene Liebhaber und Lebensgefährten an ihre Fersen, die sich am liebsten aushalten lassen. Genauso ist es mit der Sexualität. Die von Feministinnen stereotyp ins Feld geführten „Orgasmuszwänge“ sind ein Phänomen des Leistungsprinzips, dem man in dieser Gesellschaft nur um den Preis vollständiger Inaktivität entgeht. Und die angebliche „sexuelle Verfügbarkeit“ der Frauen dank Pille ist ein Problem derer, die über sich verfügen lassen.
Entgegen der heute üblichen Darstellung war die Beschwerde über den „sozialistischen Bumszwang“ nur ein nebensächlicher Anlaß unter vielen anderen Motivationen zur Gründung der Weiberräte des SDS im Jahre 1968. In bezug auf die Gesamtgesellschaft ging es um die klassenübergreifende Benachteiligung der Frauen im Berufsleben, um die patriarchalische Organisation der Kinderaufzucht und um die ideologische Unterdrückung der Frauen in der Propagierung des traditionellen mütterlichen Frauenbildes. Sozialistischer Bumszwang
Von den „sozialistischen Eminenzen“ im SDS verlangten die zornigen Weiber vor allem die Verwirklichung der gemeinsamen emanzipatorischen Ansprüche: den partnerschaftlichen Umgang mit dem anderen Geschlecht, die Aufhebung der Trennung von Politik und Privatleben und die Erotisierung aller Lebensverhältnisse als kulturrevolutionäre Vorwegnahme der utopischen Gesellschaft in der eigenen Organisation. Um sich besser artikulieren zu können und sozialisationsbedingte intellektuelle Mängel auszugleichen, betrieben nun einige unter Ausschluß der Männer Theorie. Solche Isolation war ausdrücklich als vorübergehend gedacht und hatte nichts mit dem späteren politischen und sexuellen Separatismus der Frauenbewegung zu tun. Der Umgang mit der Sexualität war noch von der aktiven Konzeption aus der Revolte geprägt. Als Fritz Teufel bei einem Diskussionstreffen am Tag nach dem Gründungshappening des Frankfurter Weiberrates die Frauen aufforderte, doch ihren Kram in eigenen Vereinen alleine zu machen, rief eine Genossin: „Und wer verschafft mir Lustgewinn?“ Auch die Busenenthüllungsaktionen der damaligen Zeit entsprachen noch dem in der Sexrevolte entwickelten Bedürfnis, die Fesseln der Wohlanständigkeit zu sprengen. Die „neue“, Männern gegenüber defensive Einstellung zur eigenen Sexualität dagegen war für die Weiberräte untypisch, obwohl sie als Tendenz schon bei deren Gründung angelegt war. Die spielerischen Kastrationsparolen einiger früher Aktionen wiesen in die Richtung der späten, so beliebten Folklore mit der Phallus-Vagina-Symbolik und den Antischwanzfickkampagnen. Frauentümelnde Selbsterfahrungsgruppen
Um die Mitte der siebziger Jahre mit dem offiziellen Abschied von der Linken begannen sich große Teile der Frauenbewegung zu entpolitisieren. Man zog sich in frauentümelnde Selbsterfahrungsgruppen zurück, berauschte sich am Anblick von Klitoris und Muttermund, diskutierte über Menstruation und Mond und entdeckte zu guter Letzt die Gebährfreuden als den Inbegriff weiblicher Identität. Seither wurde die Sexualität der Frauen auch von Frauen selbst wieder mehr als Last und Bürde denn als Lust und Recht definiert. So euphorisch das lesbische 'coming out‘ in dieser Zeit auch gefeiert wurde. Aus der lesbischen Lust hat man schnell eine Pflicht gemacht. Mit der Parole „Feminismus ist die Theorie, lesbisch sein die Praxis“ wurde aus gesellschaftlich erzwungener Heterosexualität für alle moralisch geforderte Homosexualität für Feministinnen. Die gleichzeitig zum Credo gewordene Verteufelung der heterosexuellen Penetration als einem der Vergewaltigung gleichkommenden Unterwerfungsakt tat ein Übriges. Sexualgenuß mit einem Mann wurde unfeministisch und damit reaktionär. Lesbische Liebe dagegen bekam durch ihre „Politisierung“ den enterotisierenden Geruch von Linientreue. All dies geschah im Namen der Kulturrevolution, die, unpolitisch verselbständigt, ihren hedonistischen Charakter einbüßte. Wer nur Sexualität und Geschlechterverhältnisse anders haben will, fällt ebenso in den Puritanismus der gegebenen Gesellschaft zurück wie der, dem es ausschließlich um ökonomische Umwälzungen geht. Daß das eine nicht ohne das andere geht, war die gefährliche Botschaft der Protestbewegung.
Die Angst vor der Freiheit aber kam auf verschiedenen Wegen einher. Im Gegensatz zu den Weiberräten distanzierten sich die ein Jahr später entstandenen K-Gruppen von Kulturrevolution und Sexrevolte. Mit eisernem Besen wurde bei den neugebackenen Leninisten mit allem aufgeräumt, was man neuerlich für bürgerlich dekadent hielt. Als da waren: lange Haare, kurze Röcke, Haschischgenuß, freie Liebe, Psychoanalyse und jegliches Genußstreben. Einige Leitfiguren der kurz MLer genannten Marxisten-Leninisten heirateten und zogen in Zwei-Zimmerwohnungen, weil das als proletarisch galt. Sich selbst und vor allem ihr Fußvolk in den unteren Kadern unterwarfen diese einstigen Helden des Antiautoritarismus jetzt extremen Disziplinierungsprogrammen. Man stand um sechs Uhr auf, ging Frühsport machen, um sich für den Volkskrieg zu stählen. Um acht Uhr gings zur Schulung, um zehn zur Singetruppe, um zwölf zur Kadersitzung, um zwei zum Zeitungfalten und so fort bis in die späte Nacht. Nur wenige MLer kamen noch in den Kolbkeller oder in die linken Kneipen. Nur nachts im Park konnte man einige von ihnen heimlich kiffen sehen. Kältekur und karge Kost
Im Kolbheim wohnte um 1970 ein MLer namens Hans. Er pflegte in seinem Zimmer im dünnen Hemd bei offenem Fenster frierend, die 'Rote Fahne‘ und die marxistischen Klassiker zu studieren. Er aß spartanisch und trank nur kalten Kakao. Lange Zeit redete er mit keinem seiner allesamt linksradikalen Flurgenossen. Sein wunderliches Verhalten aber änderte sich langsam. Er gab das freiwillige Frieren auf und saß öfters in der Küche. Eines Tages gelang es einer Anarchistin, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Mit Kältekur und karger Kost habe er sich auf die Klassenkämpfe mit dem Sowjetimperialismus im sibirischen Winter vorbereiten wollen. Weiter bekannte er freimütig, daß ihn seine Partei gerade hinausgesäubert habe. Er akzeptiere diesen Beschluß und vertrete weiter die Linie der KPD-ML. Nach einigen Wochen erneuten Schweigens fragt Hans die gleiche Genossin, ob sie manchmal in eine Disco gehe. Ja, sehr oft, ob er mal mitwolle, fragte sie. Nein, eigentlich nicht, das sei nur so ein dekadent-bourgeoiser Gedanke gewesen. Als Marxist -Leninist könne er so was nicht vertreten. Die Anarchistin meinte, das sei unlogisch. Jeder Proletarier gehe doch am Samstag mal zum Tanz mit seinen Klassenbrüdern. Hans strahlte: „Ja, du hast Recht, die Praxis muß entscheiden!“ Es dauerte noch einige Zeit, bis Hans mit der Anarchistin ins „Aquarius“ ging, eine Art kommerzieller Konkurrenz zum Kolbkeller. Steif saß er da in einer Ecke, ohne mit jemandem zu sprechen oder gar zu tanzen. Seine Begleiterin glaubte, ihn unterhalten zu müssen, setzte sich daneben und sprach über Belangloses. „Entschuldige, das interessiert mich jetzt alles gar nicht“, unterbrach Hans, „ich bin nämlich gerade sehr glücklich.“ Mit stockendem Atem begann er dann, sein Glück zu schildern. Er liebe Knaben, habe das schon früher gewußt und auch getan. In der KPD-ML aber sei ihm jegliche Erinnerung daran abhanden gekommen, er sei ein vollständig asexuelles Wesen geworden. Jetzt sei er glücklich, weil er wisse, warum er in die Disco wollte. Nicht arbeiten
viel vögeln
Das Jahr 1969 spaltete die Protestbewegung nicht nur in einen orthodoxen und einen undogmatischen Flügel, sondern auch in Politgenossen und Haschdeppen. Die als letztere bezeichneten unpolitischeren unter den Langhaarigen und frei liebenden Vietnamkriegsgegner wurden ausgegrenzt und schufen sich ihre eigenen, ausschließlich kulturrevolutionären Subkulturen. Der dort programmatisch gepflegte Hedonismus huldigte den Prinzipien: nicht arbeiten, viel vögeln, Shit rauchen, Trips schmeißen und jeden Abend in die Disco gehen. Als Erben der Hippies waren die Haschdeppen sanft und tolerant, die Männer meist wenig männlich im herkömmlichen Sinn. Das begann sich in den siebziger Jahren zu ändern, als die Drogenszene härter und krimineller wurde. Die reich gewordenen Frankfurter Oberdealer mauserten sich zu den übelsten Chauvis der Stadt und liebäugelten mit der Zuhälterei. Einer von ihnen entwickelte die Angewohnheit, Politgenossinnen mit „du Kommunistenfotze“ anzusprechen. Heroinsüchtige junge Frauen und Männer gingen auf den Strich. Sie kompensierten solch ökonomische Verzweiflungstat mit einem hurenkultischen Zynismus, der ihrem einstigen Flower-Power-Humanismus ins Gesicht schlug. Dazu kamen die Ideologien des Irrationalismus von der Bewußtseinserweiterung bis zum patriarchalischen Guruglauben und ein aus der buddhistischen Yin-Yang-Symbolik abgeleiteter „neuer“ Geschlechterdualismus.
Ähnlich wie in der Drogensubkultur erfuhr der männliche Chauvinismus um 1969 auch unter linksliberalen Künstlern und Literaten eine Renaissance. Die meisten der älteren von diesen Männern hatten es (nicht anders als viele SDS -Altgenossen) nie über den Libertinismus der Süsterhenn -Jahre hinausgebracht. Andere hatten sich im Zuge der allgemeinen Linksentwicklung an die egalitäre und antiobszöne Einstellung zur Sexualität aus der Revolte angepaßt, begannen aber schon bald wieder, Emanzipation und Pufferotik zu verwechseln. Männer wie die von feministischer Seite zu Recht kritisierten Rainer Röhl und Gerhard Zwerenz sind dafür typisch.
Mit einem Bein in der ihre Blumigkeit einbüßenden Drogensubkultur, mit dem anderen in der Kulturschickeria, entstand zur gleichen Zeit die schillernde Boheme des „Underground“ mit ihrer psychodelischen Ästhetik. Auch in diesen Kreisen wurden Bordellsexualität und Pornographie rehabilitiert und mit einem emanzipatorischen Glorienschein umgeben. Zwar war sich die ganze Apo einig, daß die Pornographiegesetze aufgehoben oder gemildert gehörten. Die Pornographie selbst aber hielt man auf dem radikalen Flügel der neuen Linken für ein Produkt von Sexualunterdrückung, nie für ein Zeichen von Befreiung. Wer jemals Marcuse, Reich oder Adorno gelesen hatte, konnte das nicht mißverstehen. Die Feier des Obszönen als des Emanzipatorischen dagegen ist ein Phänomen des liberalistischen, nicht des linksradikalen Individualismus. Schon Max Stirner und seine Interpreten aus der Zeit um die Jahrhundertwende propagierten die Prostitution als das moralischste Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Freiheit war für sie letztendlich die Freiheit des Marktes. Auch die Nachfolger dieser dirnenkultischen Bohemiens, anpolitisierte Künstler, Schriftsteller, Haschisch-Hedonisten und Untergrundavantgardisten waren während und vor allem nach der Studentenrevolte trotz aller Sympathien mit der radikalen Linken nicht an einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft interessiert. Sie wollten nicht mehr als ein tolerantes Kulturklima und die Erweiterung des freien Marktes, ob für Drogen, Kunst oder Sexualität. Die Sexualität als Ware aber kann nur bürgerlich, das heißt verdinglicht oder repressiv sein. Konsequent war es also, daß im März-Verlag, bei 2001 und in der Olympia-Press Soft -Pornos in Bild und Wort erschienen. Auf jeder Kulturveranstaltung lief ein Sexfilm, und es kam in Mode, als Pornomodell zu jobben. Die Botschaft der Rosi-Rosi von der Prostitution als Friedensstifterin wurde mit Begeisterung aufgenommen, und die Pop-Comics wurden immer pornographischer.
Diese Schickeria der frühen siebziger Jahre scheint das zu sein, was im heutigen Antipornographiefeminismus meist als die Linke oder die Studentenbewegung gehandelt wird. Obwohl die Gewaltpornographie sicher ebensowenig im Schoß dieser Szene wie im SDS ausgebrütet wurde, ist die Kritik daran durchaus berechtigt. Ebenso wie die feministische Schelte am „neuen“ Libertinismus im zeitgenössischen Kulturbetrieb, am Geschwätz vom heiligen Eros, von der erotischen Grenzüberschreitung und der natürlichen Gewaltsamkeit des Begehrens, an der höheren Sadokultur aus 'Wiener‘, 'Tempo‘ undsoweiter. Wahr ist auch, daß viele einstige Linke von 1968 im Zuge von Irrationalismus und Antihumanismus heute dem Kult um das Obszöne und die gewalttätige Lust verfallen sind. Nur die Linke war das weder damals noch heute. Was in den frühen sechziger Jahren angesichts der allgemeinen Unaufgeklärtheit noch verständlich war und, provokativ gewendet, sogar an die Qualität der dadaistischen Kulturkritik heranreichen mochte, war schon 1969 überholt. Heute aber führt der Sado/Maso -Libertinismus mit seiner Begeisterung für das angeblich luststiftende Sexualverbot geradewegs in die Prüderie der Adenauer-Ära zurück. Nicht anders als die gut dazu passenden Pornographieverbotskreuzzüge einer eindimensional gewordenen Frauenbewegung. Die Geschichtslüge von der Protestbewegung als Brutstätte von Antifeminismus und Gewaltpornographie schließlich ist eine kräftige Stimme im Chor der neuen Biedermänner, all jener reingewaschenen, kniegefallenen und fromm gewordenen Abschwörlinken aus der Studentenrevolte. Harter Geschütze bedarf es noch immer, um das Gespenst von 1968 zu vertreiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen